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prekäre Zone geschildert, denn der „Augenzeuge“ und Polizeispitzel Gutjahr
berichtet, dass Tatjana an der Grenze geschnappt wurde und nun im Arrest
sitzt: „Wenn sie überhaupt noch am Leben ist. Die waren ja scharf hinter ihr
her, die von der anderen Seite.“ (DSM 44) Gutjahr verändert seine Erzählung
von Tatjanas Grenzübertritt immer wieder und verstrickt sich dabei in Wider-
sprüche (vgl. DSM 49 f.). Behauptet er zunächst noch, Tatjana wäre zehn Meter
vor der Grenze erschossen worden, so stellt sich später heraus, dass diese doch
am Leben und mit einem Streifschuss davongekommen ist. Der Schütze bleibt
unbekannt; Wirz’ Haushälterin verdächtigt zunächst Gutjahr selbst. Dass Gutjahr
hier Elemente des Bildfeldes „Mordgrenze“ reproduziert, relativiert Neumann
insofern, als sich dessen Erzählung im weiteren Verlauf als Lüge herausstellt.
Wirz, der nach seiner „Freilassung und Heimkehr die Grenze nie wieder über-
quert“ (DSM 244) hat und auch nicht daran denkt, dies jemals wieder zu tun,
sieht sich im Verlauf der Handlung dennoch gezwungen, diese zu überschreiten,
um Gewissheit über das weitere Schicksal von Tatjana, die angeblich verschleppt
und ermordet worden ist, zu erlangen. Zudem lüftet sich das Geheimnis um den
ungarischen Fürsten, der in Wahrheit der „gelegentliche Banknotenfälscher“
(DSM 204) Scheel, Tatjanas Liebhaber, ist, den Wirz ebenfalls jenseits der Gren-
ze vermutet, weil er dort eine Druckerei haben soll. Da Wirz Gefahren am Gren-
zübergang vermutet, zögert er zunächst. Er findet jedoch einen heimlichen Weg,
der zwar „kein offizieller Grenzübergang war, so war es eben ein unoffizieller; es
gab hier eben schon ungeschriebene Vereinbarungen und ein Gewohnheitsrecht,
in friedlichen Wochen, bis auf jederzeitigen Widerruf“. (DSM 243) Der Gren-
zübergang ist tatsächlich für alle benutzbar, wie Wirz überrascht feststellen muss:
Aber während ich da so stand, kamen vier Leute herüber, ohne Getue und Heim-
lichkeit, und hinter ihnen, in größerem Abstand, sah ich eine Frau mit einem Kin-
derwagen, die laut lachend etwas zu einem seitab im Geröll beschäftigten Manne
hinüberrief; und als da noch von meiner eigenen Seite drei Leute hinübergingen
und dann noch zwei, war ich hinter ihnen her schon halben Wegs nach der ande-
ren Seite, bevor ich mich dessen recht versah. Die paar Meter, die noch fehlten,
waren rasch durchmessen. (DSM 244)
Neumanns Spiel mit den etablierten Grenzbildern lässt sich als Kontrafaktur
verstehen, der zwar das Phänomen der „Mordgrenze“ bekannt ist, das jedoch
literarisch unterwandert wird und sich, so die literarische Konstruktion Neu-
manns, als harmlos erweist. Auch hier haben wir es wieder mit mehrfach gebro-
chenen Spiegelungen zu tun, die bis zum Vexierspiel gesteigert sind. Die Dop-
pelbödigkeiten der Romanstruktur realisieren sich „im latenten Schwanken der
Realitätsebenen“,80 denn es erweist sich alles als mehrdeutig, die Figuren, die
80 Jäger-Gogoll: Zwischen Exil und Remigration, S. 357.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
46 1 Die Grenze
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918