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kommunistischen Narrativen über die Teilung der Welt kommt der geographi-
schen Grenze auffällig wenig Bedeutung zu, – die Grenzanlagen als eine mate-
rielle Trennungslinie zwischen Ost und West sind kein Thema für die kommu-
nistische Literatur.
Ein „unsichtbarer Vorhang“ teilt in Susanne Wantochs Propagandagedicht
Berlin, Juni 1956 den Westen als Ort der „Kriegsbrandstifter“ und den „friedli-
chen“ Osten.91 Die Grenze hat hier keine topographische Dimension, sondern
verlagert sich in die Köpfe der Protagonisten der antagonistischen Gesellschafts-
systeme. Besonders explizit wird dies bei Autorinnen und Autoren, die sich mit
der geteilten Stadt Berlin befasst haben. So beschreibt Franz Kain, der in den
Jahren 1953 bis 1956 als Korrespondent der Volksstimme aus Berlin berichte-
te,92 in der Erzählung Romeo und Julia an der Bernauer Straße (1955)93 vor allem
die ideologischen Aspekte der Grenzziehung, die topographischen explizit negie-
rend:
Die Bernauer Straße trennte den Norden des Stadtbezirkes Mitte vom Wedding.
Vor Jahren – wer erinnert sich noch genau an das Datum? – ist sie zu einer Grenz-
straße zwischen Ost- und Westberlin geworden. Dabei hat diese Bezeichnung,
was die Bernauer Straße betrifft, nichts zu tun mit der Himmelsrichtung, denn
die Bernauer ist eine Straße des Berliner Nordens, auf der einen Seite nicht mehr
gepflegt als auf der anderen, auf beiden Seiten gesäumt von noch gar nicht so alten
Häusern, die wiederum die dunklen, muffigen Hinterhöfe gemeinsam haben. Eine
unbedeutende, alltägliche Straße also, aber eine, die wie eine Wunde durch das
Arbeiterviertel geht. Auf der einen Seite gilt ein anderes Geld als auf der anderen,
und hüben herrscht eine andere Moral und eine andere Regierung als drüben.
Täglich überqueren zehntausende Menschen in beiden Richtungen die Straße, die
U-Bahn fährt, ohne zu halten, darunter hinweg, und doch ist die Grenze, die diese
Straße bildet, bitterer als eine Staatsgrenze. (RJB 11)
Es ist nur eine „unbedeutende, alltägliche Straße“, die, so der nicht näher bezeich-
nete auktoriale Erzähler, hier beispielgebend für die Grenzziehung zwischen Ost
und West ist, wobei allerdings die Himmelsrichtungen verdreht werden, was die
Unnatürlichkeit dieser Teilung in den Mittelpunkt rückt. Die Straße wird gleich-
gesetzt mit einer „Wunde“, die die ehemalige Reichshauptstadt Berlin teilt, ohne
dass der Erzähler dabei näher auf die Konstellationen des Kalten Krieges einge-
hen muss. Gleichzeitig markiert er mit den differenten gesellschaftlichen Ver-
91 Susanne Wantoch: Berlin, Juni 1956. In: Tagebuch 11 (1956) H. 15, 28.7.1956, S. 2.
92 Vgl. Judith Gruber: Franz Kain – Eine Monographie. Wien: Univ.-Diss. 1985, S. 98 f.
93 Franz Kain: Romeo und Julia an der Bernauer Straße. Berlin: Aufbau Verl. 1955. Im Folgenden
als RJB mit fortlaufender Seitenzahl zitiert.
Aus dem Osten gesehen: Die „unsichtbare“ Grenze 51
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918