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hältnissen, die von verschiedenen Währungen bis zu unterschiedlichen Moral-
vorstellungen reichen, die Systeme „hüben“ und „drüben“. In dieser
Liebesgeschichte aus dem Kalten Krieg, die das Thema der geteilten Stadt Berlin
mit der Fabel von Romeo und Julia verbindet (vgl. Kapitel 3), ist Julia aus dem
„kapitalistischen Westen“ und Romeo aus dem „sozialistischen Osten“. Die Gren-
ze ist hier insofern durchlässig, als sie eben ideologisch durch die Protagonisten
hindurchgeht und nur durch die Protagonisten überwunden werden kann. Für
Helga (= Julia), die auf dem „Damm zwischen Ost und West“ die Bernauer Stra-
ße entlang läuft, ist die Grenze unsichtbar, „aber sie ging mitten durch das Mäd-
chen hindurch“ (RJB 53). Sie hat „das Gefühl, als balanciere sie auf einer Stra-
ßenbahnschiene, die hoch über den Häusern dahinführt, über einem drohenden
Abgrund“. (ebd.) Eine Beschreibung der Grenze hinsichtlich ihrer konkreten
Dimension gibt es hier nicht. Die Vorstellung des unversöhnlichen Gegensatzes
und Kampfes der „werdenden Welt des Sozialismus“ und der „vergehenden Welt
des Kapitalismus“94 hat ein Grenznarrativ nicht nötig. Noch im Oktober 1960
wird Bruno Frei im Tagebuch von der „unsichtbare[n] Grenze“ in Berlin spre-
chen, die „irgendwo zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Bahnhof Zoo […]
Sozialismus und Kapitalismus voneinander trennt“.95
Das kommunistische Kinder- und Jugendbuch Die Grenzbuben96 des Exilau-
tors Leo Katz kann hinsichtlich des Figurenensembles und der ideologischen
Ausrichtung als Gegenerzählung zu Kellers Gefährliche Grenze gelten. Im Zen-
trum der Handlung des 1951 in der DDR erschienenen Romans stehen vier
Buben von etwa elf Jahren, die in einer burgenländischen Ortschaft nahe der
ungarischen Grenze leben. Ernstl, der seinen Bruder und seine Eltern, die im
antifaschistischen Widerstand in Ungarn aktiv waren, im Zweiten Weltkrieg
verloren hat,97 ist vorrangiges Ziel der Willkür und der Anfeindungen von Sei-
94 Vgl. Ernst Fischer: Das Gespenst der Reaktion und die Kräfte des Fortschritts. In: Weg und
Ziel 5 (1947) H. 5, S. 313–325, hier S. 324 f.
95 Bruno Frei: Berlin, Oktober 1960. In: Tagebuch 15 (1960) H. 12, Dezember, S. 4. Vgl. dazu
auch Arnolt Bronnens Reisebericht in die DDR, der in Form von Briefen an seine Frau Rena-
te gestaltet ist. Darin wirbt Bronnen um die Gunst der SED-Machthaber, da er nach Ostberlin
übersiedeln will. Auch die Teilung Berlins gerät nicht ins Auge des Betrachters, vielmehr sehe
die ganze Stadt einer sozialistischen Zukunft entgegen: „Von der Sektorengrenze merkt der
Fremde überhaupt nichts; hüben wie drüben ähnliche Gesichter und ähnliche Gespräche, die
gleichen Kleider, auch die gleichen Trümmer. […] Doch was das Berlin von heute trennt, wird
das Berlin von morgen wieder binden. Gerade diese weite, freie, heute ungenutzte Fläche im
Herzen der Riesenstadt prädestiniert Gesamtberlin zu einer sozialistischen Hauptstadt.“ Arnolt
Bronnen: Deutschland. Kein Wintermärchen. Eine Entdeckungsfahrt durch die Deutsche
Demokratische Republik. Berlin: Verlag der Nation 1956, S. 16.
96 Leo Katz: Die Grenzbuben. Berlin: Kinderbuchverlag 1951. Im Folgenden als G mit fortlau-
fender Seitenzahl zitiert.
97 Der Lehrer Albert erzählt den Jungen die Geschichte von der Ermordung der Familie Ernstls,
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52 1 Die Grenze
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918