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‚Meine lieben Freunde, ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Diese Sache
fiel mir gestern abend ein. Ständig kommen nämlich Kinder aus meiner Klasse
zu mir, die gern wissen möchten, wie es unseren Freunden in Ungarn geht. Ich
kann nicht jedem soviel erzählen. Und da fiel mir ein, daß es gut wäre, die von
den Kindern erhaltenen Briefe abzuschreiben, viele Kopien anzufertigen und sie
den Kindern hier zu geben. Auf diese Weise werden alle Kinder in Baumersdorf
erfahren, wie dort die Kinder leben, was für die Kinder in Ungarn geschieht und
was für schöne Ferien unsere Freunde dort gemeinsam mit vielen hunderten an-
derer Kinder haben.‘ (G 203)
Der Lehrer greift damit einem Auftrag vor, den die Buben auch vom Vorsitzen-
den des Pionierlagers mit auf den Weg bekommen:
Ihr sollt zu Hause, in der Schule, auf der Straße und vor allem euern Eltern nichts
anderes erzählen […] als das, was ihr hier wirklich gesehen, was ihr hier getan
und was ihr hier erlebt habt. Das und nichts anderes verlangen wir von euch. (G
199)
Dieser Auftrag der Gastgeber, zu Hause nach bestem Wissen und Gewissen über
die Volksrepublik Bericht zu erstatten, findet sich beinahe identisch in einer der
Propagandabroschüren: „Nun fahrt ihr wieder nach Hause, erzählt dort, was ihr
hier gesehen und gehört habt, gebt nichts dazu und nehmt nichts weg, so könnt
ihr am besten für die Verständigung unserer beiden Völker und am Ende mit
allen Völkern der Erde beitragen.“13 Katz’ Roman bedient sich also der gleichen
rhetorischen Strategien wie die kommunistischen Propagandabroschüren über
die ‚Wahrheit‘ hinter dem Eisernen Vorhang und fügt sich so in deren propagan-
distische Stoßrichtung nahtlos ein. Freilich ist diese hier in den Gattungsrahmen
einer Abenteuergeschichte gebettet, der für Kinder und Jugendliche attraktiv ist.
Wie in Kapitel 1 bereits erwähnt, erscheint das Jugendbuch Gefährliche Gren-
ze von Paul Anton Keller, das im Jahr des Ungarnaufstands veröffentlicht wurde,
fast wie eine Replik auf das Buch von Katz.14 Auch in Gefährliche Grenze machen
sich ein 9- und ein 10-jähriger Bub allein mit ihrem Hund auf, um die Grenze
nach Ungarn zu überschreiten. Wie Ernstl aus Die Grenzbuben sind Dick und
Mac – die beiden rufen sich gegenseitig bei diesen amerikanisierten Spitznamen
– Waisenkinder mit ungarischer Herkunft. In beiden Texten ist die Reise also
auch eine Suche nach den (familiären) Wurzeln. Während Ernstl sich aber in
13 Adolf Huemer, Maria Kerbl [u.a.]: Reiseeindrücke aus der Sowjetunion. In: Die Arbeit. Das
Magazin des Gewerkschaftlichen Linksblocks 8 (1954) H. 2, S. 27–29, hier S. 28.
14 Möglicherweise reagiert Gefährliche Grenze außerdem auf das Jugendbuch Gefährliches Spiel
von Walter Paul Kirsch (Globus 1955), in dem die Gefahren der Amerikanisierung im Vorder-
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60 2 Reisen ins Rote – Augenzeugen hinter dem Eisernen Vorhang
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918