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gungsprogramm geboten.18 Westliche Journalisten, die außerhalb solcher Rah-
menbedingungen die Sowjetunion bereisen wollten, mussten mit großen Schwie-
rigkeiten rechnen, wenn sie die „langwierige, kostenintensive und auch
selektive Visavergabe“19 zu umgehen versuchten. Selbst Bürger der DDR konn-
ten noch in den 70er- und 80er-Jahren, wenn sie selbständig länger als zwei Tage
die UdSSR bereisen wollten, dies nur illegal tun und sie liefen Gefahr, unter
Umständen der Spionage verdächtigt zu werden.20
Dass es auch für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer geführter Delegatio-
nen nicht nur die offiziell erwünschte ‚Wahrheit‘ gibt, zeigen einige Sowjetrei-
seberichte aus den 1950er- und 1960er-Jahren, die ein durchaus differenzierte-
res Bild zeichnen, wie etwa ein Bericht der ECA-Mission (Economic
Cooperation Administration).21 Auch individuelle Berichte von Touristen, die
ab 1957 die Sowjetunion unter kontrollierten Bedingungen bereisen durften,22
so von Eliane Jacquet23 und dem Journalistenduo Andreas Kirschhofer und
Walter Pollak,24 differieren in ihren Inhalten gegenüber den einförmig gehalte-
nen Propagandabroschüren. Otto Basils Berichte aus Ostberlin,25 Prag26 und
Polen27 sind ebenfalls als nicht-propagandistische Darstellungen von Gebieten
hinter dem Eisernen Vorhang zu bezeichnen.
Die überwiegende Mehrzahl der veröffentlichten Augenzeugenberichte dient
aber der propagandistischen Beweisführung, dass das Sowjetregime seiner Bevöl-
kerung überaus lebenswerte Bedingungen biete und dass das kommunistische
System für Aufschwung in Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Kultur sowie
18 Vgl. zum relativen Informationsgehalt und der propagandistischen Auswertung des geführten
Sowjettourismus Hélène Lazareff, Pierre Lazareff: Pilgerfahrt des guten Willens. In: Dies.: Die
Stunde Moskaus. Rußland wie es wirklich ist. Düsseldorf: Karl Rauch 1955, S. 228–235.
19 Heeke: Reisen nach Moskau, S. 172.
20 Vgl. Cornelia Klauß, Frank Böttcher (Hg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen
durch das Sowjetreich. Berlin: Lukas 2011, S. 13.
21 Abteilung für Arbeitsinformation der ECA-Mission für Österreich (Hg.): Voller und ungekürz-
ter Bericht der norwegischen Gewerkschaftsdelegation über ihre Besuche in Amerika (USA)
und Russland (UdSSR). Wien: Abteilung für Arbeitsinformation der ECA-Mission für Öster-
reich 1950. Ein ebenfalls differenziertes Bild zeichnet Hans-Werner Richter: Karl Marx in
Samarkand. Eine Reise an die Grenzen Chinas. Neuwied: Luchterhand 1966.
22 Vgl. Andreas Kirschhofer, Walter Pollak: Den Sowjets ins Gesicht geschaut. Wien [u.a.]: Lentia
1959, S. 7 f.
23 Eliane Jacquet: Mein russisches Tagebuch. Wien: Neff 1959.
24 Kirschhofer, Pollak: Den Sowjets ins Gesicht geschaut.
25 Vgl. z.B. Otto Basil: Wie lebt der Berliner heute? In: Neues Österreich. Unabhängiges Wie-
ner Tagblatt, 16.3.1949, S 3.
26 Vgl. z.B. Otto Basil: Columbus in der Tschechoslowakei (II). Abseits vom ‚Prager Frühling‘. In:
Neues Österreich 20.5.1956, S. 5 f.
27 Vgl. z.B. Otto Basil: Polen: Gesichter, Gesichte, Gespräche. In: Neues Österreich, 23.4.1965,
S. 3 f.
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64 2 Reisen ins Rote – Augenzeugen hinter dem Eisernen Vorhang
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918