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für enorme Verbesserungen des Lebensstandards und der Sozialeinrichtungen
sorge. Dabei wird immer wieder auf die kursierenden Unwahrheiten über die
Lebensbedingungen in der Sowjetunion hingewiesen, werden die Berichte gleich-
sam als Gegendarstellungen zu den verbreiteten ‚falschen‘ Ansichten im Westen
positioniert: Ernst Fischer spricht davon, dass durch die „verfälschende [...] Pro-
paganda“ eine „Barriere der Unkenntnis“28 entstanden sei. „Allerdings war ich
durch die intensive Propaganda, die derzeit bei uns herrscht, nicht auf das Bes-
te gefasst“,29 berichtet ein Delegationsmitglied einer UdSSR-Reise, der sich poli-
tisch als „Sozialist“ und „weder als Gegner, noch als Freund“ der Sowjetunion
ansieht. Eine Mitreisende äußert sich ganz ähnlich: „Ich bin parteilos und woll-
te schon lange wissen, wie es wirklich in der Sowjetunion ausschaut, weil man
bei uns so viel Schlechtes erzählt.“30 Immer wieder wird betont, dass die Rei-
senden keine vorgefasste Meinung besitzen und die Reise nicht als bereits über-
zeugte Anhänger des Kommunismus antreten. Die Befürwortung aus ‚anderen
Lagern‘ war für die kommunistische Propaganda besonders wertvoll, da sie
Objektivität suggerierte.31 Genau darauf beziehen sich auch Carl Merz und Hel-
mut Qualtinger in ihrem kabarettistischen Kurzdrama Marx und Moritz32 (1958),
in dem ein Russe über Delegierte aus Österreich sagt: „Kommunisten wir haben
im Land genug. Wir brauchen nicht einzuladen. Zu uns kommen andere Par-
teien: ÖVP … SPÖ oder wie heisst …“. (MM III, 4)
Die Beteuerung der Objektivität, der Unvoreingenommenheit und daraus
folgend des Entdeckens und Erstaunens wird in den kommunistischen Broschü-
ren dermaßen inflationär eingesetzt, dass genau das den Verdacht verstärkt, dass
man es hier eben nicht mit der Wahrheit zu tun hat. Immer wieder wird betont,
dass es keinerlei Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit der Delegierten gab
28 Ernst Fischer: Wie lebt man heute in der Sowjetunion? In: Die Brücke. Monatshefte für
Kultur und Wirtschaft 1 (1945) H. 1, S. 16–24, hier S. 16.
29 Huemer, Kerbl [u.a.]: Reiseeindrücke aus der Sowjetunion, S. 27.
30 Ebd., S. 28.
31 Vgl. David Caute: The Fellow-Travellers. Intellectual Friends of Communism., bearb. Aufl.
New Haven, London: Yale Univ. Press 1988.
32 Carl Merz, Helmut Qualtinger: Marx und Moritz oder Das Geheimnis der Büste. Ein west-öst-
liches Hindernisrennen in einem Startschuß und fünf Teilstrecken. [Musik und Gesangstexte:
Gerhard Bronner, Hans Weigel. UA: 29. März 1958, Intimes Theater]. Typoskript: Niederös-
terreichische Landesbibliothek, IDN: 373925. [im Folgenden abgek. MM; Die fünf Akte wer-
den mit römischen Ziffern bezeichnet, da diese je gesondert paginiert sind.] Ein Typoskript
befindet sich auch in der Wienbibliothek, Nachlass Hans Weigel, Archivbox 54. Auszüge des
Textes existieren offenbar auch als Mitschnitt eines Leseabends in der Dokumentationssstelle
f. Öst. Lit. (DST TB 306.A.1-5). Vgl. Arnold Klaffenböck: Zwischen Agitation und Konformis-
mus. Helmut Qualtingers ‚politisches Kabarett‘ und der Kalte Krieg. In: Oswald Panagl, Robert
Kriechbaumer (Hg.): Stachel wider den Zeitgeist. Politisches Kabarett, Flüsterwitz und subver-
sive Textsorten. Wien [u.a.]: Böhlau 2004, S. 129–155, hier S. 136.
Die Rhetorik der Augenzeugenschaft 65
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918