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merke ich eine Wandlung in mir, macht das Neue, das ich sehe, auch meine Au-
gen neu.47
Bronnen beschreibt seine Erfahrungen als eine Wandlung, symbolisiert durch
einen Sturm, der ihn zu – mitteilbaren – Erkenntnissen befähigt: „Aber Sturm
muß sein. Er reinigt die Luft. Nur in reiner Luft reift die Erkenntnis. Nur nach
diesem Sturm werde ich imstande sein, mehr zu erkennen. Mehr zu erkennen
für mich, und durch mich für Dich.“48 Die Erzählung behauptet so, nicht nur
von einer Reise zu berichten, die einen Erkenntnisgewinn bei der reisenden Per-
son bewirkte, sondern suggeriert, diesen Erkenntnisgewinn auch auf die Adres-
satinnen und Adressaten übertragen zu können. Bronnens in Buchform publi-
zierter Essay gliedert sich – bei aller literarischen Ambition – also nahtlos in die
Propagandalinie der kommunistischen Reiseberichte ein.
Lion Feuchtwanger vs. André Gide. Die Vorgeschichte in den 1930er-Jahren
Reisen hinter den Eisernen Vorhang waren zu einem hohen Grad vom Sowjet-
regime und seinen Vorgaben gesteuert.49 Dennoch schienen sie die einzige Mög-
lichkeit, um die widersprüchlichen Erzählungen über die kommunistischen
Staaten beurteilen zu können. Diese stellten für viele die Verheißung eines ande-
ren, besseren Gesellschaftssystems dar, der großen politischen Alternative zu
den Diktaturen und Demokratien der kapitalistischen Hemisphäre. Umso grö-
ßer war die Enttäuschung, wenn die tatsächlichen Verhältnisse nicht der sozia-
listischen Utopie entsprachen, sondern sich statt der Befreiung der Arbeiter nur
ein anderes repressives System etabliert hatte. Viele sozialistisch gesinnte Auto-
ren fassten dies als Verrat an der Sache auf. „Von einem Sozialismus ist keine
Rede mehr, es ist eine Schreckensherrschaft“50, schreibt der rumänische Kom-
munist Panaït Istrati, der von 1927 bis 1929 sechzehn Monate lang durch die
Sowjetunion reiste. Sein 1929 auf Französisch erschienenes Buch Auf falscher
Bahn bildet den Anfang der kritischen Reiseberichte über die stalinistische UdSSR,
47 Bronnen: Deutschland, S. 21.
48 Ebd., S. 51.
49 David Caute spricht von einer „psychosis of the Iron Curtain“. David Caute: The Dancer Defects:
The Struggle for Cultural Supremacy during the Cold War. New York: Oxford Univ. Press 2003,
S. 29. Damit ist gemeint, dass Personen von jenseits des Eisernen Vorhangs hohes Misstrauen
in der Sowjetunion auslösten. So wurde Touristen wie Hélène Lazareff der Film aus der Kame-
ra genommen: „Harrison Salisbury and Hélène Lazareff were among scores of journalists and
tourists who had their film, or their cameras, confiscated after innocently photographing color-
ful Soviet market-places.“
50 Panaït Istrati: Auf falscher Bahn. 16 Monate in Rußland. München: Piper 1930, S. 259.
Die Rhetorik der Augenzeugenschaft 69
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918