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SR ein Problem mit dem Sehen der ‚Wirklichkeit‘ zugrunde liegen müsse.55 Wil-
li Bredel verteidigte Feuchtwangers Moskau 1937 noch 1959 mit dem Argument
unbestechlicher, objektiver Wahrnehmung, bezog dieses allerdings vor allem auf
den Westen und das Erbe des Zarentums:
Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger hatte mit wachen Sinnen, mit offenen Augen
und unbestechlicher Redlichkeit im kapitalistischen Europa seine gesellschaftli-
che Umwelt beobachtet; nun lernte er die Menschen der Sowjetunion kennen,
die neuen gesellschaftlichen Errungenschaften und Einrichtungen, die sie ihrer
siegreichen Oktoberrevolution verdankten. [...] Sein kritischer skeptischer Ver-
stand ließ ihn auch mancherlei noch Kritikwürdiges erkennen, Überbleibsel aus
der Zeit des Zarismus, [...]56
Die ‚Wahrheit‘ hinter dem Eisernen Vorhang
Im Kalten Krieg setzte sich die Debatte um die ‚Wahrheit‘ bzw. ‚Wirklichkeit‘ der
UdSSR mit neuer Schärfe fort. Eines der einflussreichsten Bücher der Nach-
kriegszeit zu diesem Thema, verfasst vom in die USA geflohenen weißrussischen
Oppositionspolitiker und ehemaligen Mitglied des Moskauer Sowjets David J.
Dallin, heißt The Real Soviet Russia (1947).57 Der sowjetkritische Reisebericht
des französischen Journalistenpaares Hélène und Pierre Lazareff trägt den Titel
Die Stunde Moskaus. Rußland wie es wirklich ist (dt. 1955). Am Klappentext der
deutschen Ausgabe heißt es bezeichnend: „immer sind sie [H. u. P. Lazareff]
objektiv bis zum Äußersten, bis zur Grenze einer nahezu skandalösen Objekti-
vität, die hinter jede noch so dichte Kulisse schaut.“58 Aber auch die Verteidiger
55 Michael Rohrwasser hat darauf hingewiesen, dass Brecht keine ontologische Wahrheit im Blick
hat, wenn er Gides Bericht kritisiert, sondern eine funktional bestimmte Verhaltensweise. Die
angewandte Rhetorik verurteilt dennoch Idealismus im Gegensatz zu empirischer ‚Wirklich-
keit‘. Vgl. Michael Rohrwasser: Kommunist, Exkommunist, Antikommunist. In: Wilhelm
Hemecker, Mirjana Stančić (Hg.): Ein treuer Ketzer. Mànes Sperber als Ideologe. Wien: Zolnay
2000, S. 58–71, hier S. 64.
56 Willi Bredel: Lion Feuchtwanger in Moskau. In: Neue deutsche Literatur 7 (1959) H. 2,
S. 144–146.
57 David [Julievich] Dallin (d. i. David Levin): The Real Soviet Russia. London: Hollis & Carter
1947. Im selben Jahr veröffentlichte Dallin gemeinsam mit Boris
I. Nicolaevsky ein Buch über
den Gulag: David J. Dallin, Boris I. Nicolaevsky: Forced Labour in Soviet Russia. New Haven:
Yale Univ. Press 1947. (dt.: Zwangsarbeit in Sowjetrußland. Wien: Verlag Neue Welt 1948.)
Dass der Vorwurf dieser Zwangsarbeit keine realen Grundlagen habe, behauptet folgende öster-
reichische Propagandabroschüre: Theodor Prager: Das Märchen von der ‚roten Zwangswirt-
schaft‘. Wien: Stern 1953.
58 Lazareff, Lazareff: Die Stunde Moskaus. Die Rhetorik der Augenzeugenschaft 71
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918