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Ein neues Lied, ein besseres Lied
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.(HL 142)
Diese Strophe ist dem Roman auch als Motto vorangestellt, allerdings flankiert
von einem zweiten Motto, das die Heine’sche Hoffnung in Frage stellt. So wird
Leo Trotzki zitiert: „Unsere Zeit ist vor allem eine Zeit der Lüge.“ (HL 5) Diese
Kontrafaktur markiert den Rahmen des politischen Diskurses, der den Roman
bestimmt.68 Schindler muss wie viele österreichische Sozialisten nach den Feb-
ruarkämpfen also in die Tschechoslowakei flüchten. Dort tritt er der KP bei, um
in die Sowjetunion einreisen zu können, wo er sich bessere Chancen zum „Schrei-
ben und Veröffentlichen in deutscher Sprache“ (HL 266) erwartet. Im Rückblick
erscheint ihm seine damalige Hoffnung auf ein sozialistisches Himmelreich in
der Sowjetunion als etwas naiv: „Dort würden sie mich nicht mit Almosen beglü-
cken, dort warteten sie auf mich, dort würden sie mich brauchen, dort würde
ich zum erstenmal in meinem Leben ein Mensch unter Menschen sein.“ (HL
266) Diese Hoffnungen verbanden sich mit literarischen Ambitionen. Denn kurz
vor der Entscheidung zur Emigration in die Sowjetunion beschließt Schindler
ein „Buch ohne Lüge“ (HL 256 u. 262) zu schreiben, das seine bisherigen Lebenser-
fahrungen authentisch schildern soll. Diesen Anspruch revidiert er aber sehr
bald: Das „Buch ohne Lüge“ sei „das Buch, das nie geschrieben wurde“. (HL 256)
„Die Wahrheit, das war ein klingendes Wort, die Überzeugung war achtenswert,
die Begeisterung war schön. Aber je mehr ich nachdachte, desto komplizierter
erschien mir mein Vorhaben, und ich war müde.“ (HL 262)
68 Denselben Vorwurf, der im Roman gestaltet wird, fasst Federmann in einem kurzen Gedicht
mit dem Titel Verbeugung nach links, das 1953 in der Anthologienreihe Stimmen der Gegen-
wart publiziert wurde:
Ihr dreht das Wort im Mund
eh’s noch gesprochen ist;
es klingt so glatt und rund,
weil’s längst gebrochen ist.
Wenn ihr den Krieg beklagt,
ist’s nur ein Wort,
und wenn ihr Frieden sagt,
dann meint ihr Mord.
Reinhard Federmann: Verbeugung nach links. In: Hans Weigel (Hg.): Stimmen der Gegenwart
1953. Wien: Albrecht Dürer 1953, S. 97. Möglicherweise spielt Federmann auf dieses und das
Gedicht Verbeugung nach rechts an der Stelle des Romans an, an der Schindler bekennt, wegen
der Hoffnung auf bessere Publikationsmöglichkeiten in die KP eingetreten zu sein: „Das wirft
kein gutes Licht auf mich, und ich bedaure es mit Verbeugungen nach allen Seiten. Aber es ist
wahr.“ (HL 266) Reisen ins gelog’ne Land 75
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918