Page - 89 - in Diskurse des Kalten Krieges - Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
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ten nur gar zu gerne wissen, was ein ausverkauftes Opernhaus gegen das Grauen
der Diktatur beweist, unter deren Regie und Regime der Ausverkauf stattfindet.
[…] Hat er [Wilhelm Marinelli; siehe Fußnote] geglaubt, daß man ihn statt in
Opernhäuser und Kulturpaläste in Gefängnisse und Konzentrationslager führen
oder daß man für ihn und seine Kollegen statt eines Empfanges eine besonders
schöne Massendeportation veranstalten würde?98
Torberg lenkt hier die Debatte um die Wahrheit hinter dem Eisernen Vorhang
auf die Frage der Selektivität des Gesehenen. Er wirft den Augenzeugen Einäu-
gigkeit und mangelndes Reflexionsvermögen über die Wahrnehmungsfilter vor,
die von den sowjetischen Propagandainstitutionen installiert werden. So werden
„Gefängnisse und Konzentrationslager“ eben ganz bewusst nicht zum Gegen-
stand der Propagandareisen in die Sowjetunion99 und die Delegierten fragen
auch nicht danach. Genauso selektiv ist der Blick des „Eingeladenen“ in Fahrt
ins Rote, auch er hält die propagandistisch auswertbaren Aspekte des bereisten
Landes unhinterfragt für ‚wahr‘, hegt aber sogleich Zweifel an der Erklärung des
Verhafteten, er werde grundlos festgehalten: „ich kenne Sie ja nicht ... Wie soll
ich wissen, ob sie mir die Wahrheit erzählen?“ (FR 166) Diese misstrauische
Reaktion wirkt besonders zynisch von einem Delegationsmitglied, das die Erzäh-
lungen seiner kommunistischen Gastgeber in keiner Weise in Zweifel zieht. Bit-
tere Ironie enthält auch eine Passage, in der die Figur des „Zweiten Apparatschik“
dem ob seiner Verhaftung bereits nervlich zerrütteten „Unvoreingenommenen“
einen Witz erzählt:
In unser Land man erzählt Geschichte. Das geht so: In ein Ortschaft Polizei gibt
Plakat auf Wand: Es ist gekommen ausländische Agent. Wer sieht Agenten, soll
ihn erschießen. Sagt ein Tourist zu seinem Freund: ‚Ich fahre fort.‘ ‚Du bist doch
nicht Agent!‘ sagt der Freund. Sagt der Tourist: ,Wenn Polizei wird schießen auf
Agenten, wird erschießen Fremden. Dann bringe Beweis, du warst kein Agent ...‘
Er beginnt zu lachen, der Unvoreingenommene fällt ein, sein Lachen steigert sich zu
einem hysterischen Lachkrampf. (FR 173)100
98 Friedrich Torberg: Der fröhliche Ostfahrer. Zu einer Studienreise österreichischer Wissen-
schaftler. In: Forvm 1 (1954) H. 12, Dezember, S. 15 f. [Der Artikel bezieht sich auf eine Ein-
ladung zu einer Studienreise an österreichische Wissenschaftler und Künstler durch die „Öster-
reichisch-Sowjetische Gesellschaft“ im Namen der ÖAW. Teilnehmer waren u.a. Rigobert
Funke-Elbstadt (Bildender Künstler); Eduard Tratz (Zoologe), Otto Friedländer (Schriftsteller,
Publizist) und Wilhelm Marinelli (Zoologe).]
99 Mit Ausnahme von eigens zur Vorführung präparierten Musterlagern. Vgl. dazu Kapitel 6.
100 In ihrer Sammlung Der politische Witz berichten Milo Dor und Reinhard Federmann über die
Verbreitung eines ganz ähnlichen Witzes: „Bezeichnend für die befreiende Wirkung des Wit-
zes ist der Umstand, daß die Unterdrückten in verschiedenen Ländern, zu verschiedenen Zei-
Das Reise-Narrativ in Satire und Parodie 89
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918