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Vita Triumphatrix
„Wie es auch war, das Leben, es ist schön.“
Goethe
Wie dunkel der Weg durch Dostojewskis Tiefe, wie düster seine
Landschaft, wie drückend seine Unendlichkeit, geheimnisvoll ähnlich seinem
tragischen Antlitz, das allen Schmerz des Lebens in sich gemeißelt!
Abgründige Höllenkreise des Herzens, purpurne Fegefeuer der Seele, der
tiefste Schacht, den irdische Hand jemals in die Unterwelt des Gefühles
hinabstieß. Wieviel Dunkel in dieser Menschenwelt, wieviel Leiden in diesem
Dunkel! O welche Trauer auf seiner Erde, dieser Erde, „die mit Tränen
getränkt ist bis zu ihrer untersten Kruste“, welche Höllenkreise in ihrer Tiefe,
finsterer als Dante, der Seher, sie vor einem Jahrtausend erschaut. Unerlöste
Opfer ihrer Irdischkeit, Märtyrer eigenen Gefühles, umschlungen von den
Schlangen ihrer Leidenschaft, gequält von allen Geißeln des Geistes,
schäumend im Schwall ohnmächtiger Empörung, o welche Welt, diese Welt
Dostojewskis! Vermauert alle Freude, verbannt alle Hoffnung, ohne Rettung
vor dem Leiden, das, unendlich getürmte Mauer, um alle seine Opfer steht! –
Kann kein Mitleid sie erlösen, seine Menschen, aus ihrer eigenen Tiefe,
sprengt keine apokalyptische Stunde diese Hölle, die ein Gottesmensch schuf
aus seiner Qual?
Tumult und Klage strömt aus dieser Tiefe, wie nie die Menschheit sie
erhört. Nie war mehr Dunkelheit über einem Werk. Selbst Michelangelos
Gestalten sind linder in ihrer Trauer, und über Dantes Tiefe glänzt der
Paradiese seliger Schein. Ist wirklich das Leben nur ewige Nacht in
Dostojewskis Werk und Leiden der Sinn alles Lebens? Zitternd beugt sich die
Seele über den Abgrund und schauert, nur Qual und Klage zu hören von ihren
Brüdern.
Aber da schwebt ein Wort aus der Tiefe, sanft im Getümmel und doch hoch
sie überschwebend, wie eine Taube aufschwebt über stürmendem Meer. Sanft
ist es gesprochen, und groß ist sein Sinn, selig das Wort: „Meine Freunde,
fürchtet das Leben nicht.“ Und es ist ein Schweigen aus diesem Wort,
schauernd lauscht die Tiefe, und sie schwebt, sie überschwebt alle Qualen, die
Stimme, da sie spricht: „Nur durch Qual können wir das Leben lieben
lernen.“
Wer spricht dies tröstendste Wort des Leidens? Der Leidendste aller, er
selbst, Dostojewski. Noch sind die gespreiteten Hände geschlagen an das
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131