Page - 28 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Die nächsten Tage brachten für Erika nur Harren und Bangen. Im geheimen
wartete sie auf einen Brief, eine Nachricht von seiner Hand; sie sehnte sich
selbst nach einem Schreiben mit harten, unbarmherzigen Vorwürfen und
zornigen Worten. Denn sie wollte einen Abschluß haben, ein Ende, das sich
über die Vergangenheit legte und ihr das geheime Hinübertreten in ihre
kommenden Tage verwehren sollte. Oder es sollte ein Brief sein mit milden,
verstehenden Worten, die zu ihrer Seele gingen und sie wieder zurückführten
in den Reigen der seligen Stunden, aus dem sie geschieden.
Aber keine Botschaft kam, kein Zeichen stellte sich zwischen sie und die
quälende Ungewißheit. Denn Erika war noch viel zu sehr im Banne ihrer
Empfindungen und Erregungen, um zu wissen, ob ihre Liebe zu ihm noch
lebte oder ob sie schon gestorben war oder sich am Ende im
Umwandlungzustande neuer Phasen befand, von denen sie noch nichts ahnte.
Sie spürte nur die Unruhe und Verworrenheit in sich, die fortwährende
Spannung, die sich nicht lösen wollte und in ihr gereizte und häßliche
Stimmungen erweckte. Nervös und mit Kopfschmerzen ging sie in die
Stunden, die ihr furchtbarer wurden als je, weil sie alles Falsche und
Unharmonische viel schärfer spürte. Und jedes Geräusch irritierte sie, die
Außenwelt wurde ihr unerträglich in ihrem lauten Hasten und Drängen, und
selbst die eigenen Gedanken verloren ihre sanfte, wohltuende Traumhaftigkeit
und bekamen harte einschneidende Spitzen. In jedem Dinge verbarg sich ihr
eine geheime Feindseligkeit und eine trotzige Absicht, die sie verletzen
wollte. Die ganze Welt, die sie umschloß, schien ihr nur mehr ein großes,
dunkles Gefängnis mit tausend verborgenen Marterwerkzeugen und
erblindeten Scheiben, die dem Lichte den Eingang verwehrten.
Und diese Tage waren ihr unerträglich lang und wollten kein Ende nehmen.
Erika saß beim Fenster und wartete auf den Abend, der ihr ein wenig Frieden
brachte mit der sanften Milderung aller Kontraste. Wenn die Sonne sich
langsam hinter den Dächern zu senken begann, und immer matter und mehr
abgedunkelt die Widerscheine nachzitterten, wurde alles in ihr stiller und
ruhiger. Dann fühlte sie auch, daß ihr ganzes Denken und Fühlen jetzt anders
und fremder werden wollte, daß neue Geschehnisse und neue Gefühle vor der
Pforte ihres Lebens standen und lärmten und Einlaß begehrten. Aber sie
achtete ihrer nicht, denn sie glaubte, die Regungen, die in ihr wuchsen und
sich formten, seien nur die letzten verscheidenden Zuckungen ihrer
sterbenden Liebe… … .
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik