Page - 43 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Als Erika sich wieder in ihrem Zimmer befand, war auch der letzte Rest des
Rausches verflogen. Nur das Geschehene der letzten Stunden war ihr unklar
und verschwommen, aber sie dachte nicht mit scheuer Ängstlichkeit zurück,
sondern mit friedevoller Ruhe. In diesen glühenden Tränen war ihre ganze
junge Seele gewesen mit all ihrem Schmerz: mit der großen drückenden
Liebe, mit der wilden und brennenden Schmach und der letzten, beinahe
vollbrachten Erniedrigung.
Langsam kleidete sie sich aus.
Alles hatte so kommen müssen; denn es gibt Menschen, die nicht zur Liebe
geboren sind, denen nur die heiligen Schauer der Erwartung blühen, weil sie
zu schwach sind, die schmerzhaften Seligkeiten der Erfüllungen zu tragen.
Erika dachte über ihr Leben nach. Sie wußte nun, daß die Liebe nicht mehr
zu ihr kommen würde, und daß sie ihr nicht entgegengehen dürfe; die
Bitterkeit des Entsagens nahte ihr zum letzten Male.
Einen Augenblick zögerte sie noch in geheimer unverständlicher Scham;
doch dann löste sie die letzten Hüllen vor dem Spiegel.
Sie war noch jung und schön. In ihrem blütenweißen Körper lag noch die
hellschimmernde Frische früher Jahre, in sanfter, fast kindlicher Rundung
bebten ihre Brüste, die in wilder innerer Erregung sich hoben und senkten,
leise und zart in rhythmisch verfließendem Linienspiel. Stärke und
Geschmeidigkeit prunkte in den Gliedern, alles war geschaffen und bereit,
eine schenkende Liebe kraftvoll zu empfangen und zu erhöhen, Seligkeiten zu
geben und zu nehmen im wechselnden Spiel, dem heiligsten Ziele entgegen
zu schaffen und das verklärte Wunder der Schöpfung in sich zu erleben. Und
das alles sollte ungenützt und unfruchtbar vergehen, wie die Schönheit einer
Blume, die ein Wind verweht, ein taubes Korn im unübersehbaren
Garbenfelde der Menschheit?
Eine milde versöhnliche Resignation kam über sie, die Hoheit der
Menschen, die durch den größten Schmerz gegangen. Und auch den
Gedanken, daß diese blühende Jugend einem, einem einzigen bestimmt
gewesen sei, der sie begehrt und verachtet habe, auch diese letzte schwerste
Prüfung fand keinen Groll mehr bei ihr. Wehmütig löschte sie das Licht und
sehnte sich nur mehr nach dem leisen Glück milder Träume.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik