Page - 44 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Diese wenigen Wochen umgrenzten das Leben der Erika Ewald. In ihnen lag
alles beschlossen, was sie erlebte, und die vielen späteren Tage gingen an ihr
vorüber, gleichgültig wie Fremde. Ihr Vater starb, die Schwester heiratete
einen Beamten, Verwandte und Freunde trugen Glück und Unglück, nur in
ihre einsamen Stunden ließ sie das Schicksal nicht mehr ein. Ihr konnte das
Leben nichts mehr anhaben mit seiner stürmischen Gewalt; die tiefe Wahrheit
war ihr bewußt geworden, daß der große heilige Friede, um den sie gerungen,
nicht anders errungen wird, als durch einen tiefen läuternden Schmerz, daß es
kein Glück gebe für den, der nicht den Weg der Leiden gegangen ist. Aber
diese Weisheit, die sie dem Leben abgezwungen, blieb nicht kalt und
unfruchtbar; die Fähigkeit zur spendenden Liebe, die einst ihr Wesen in
heißen Konvulsionen erschüttert, zog sie nun zu den Kindern hin, die sie
Musik lehrte und denen sie vom Schicksal und seinen Tücken erzählte, wie
von einem Menschen, vor dem man sich hüten muß. Und so gingen ihre
Monate, Tag für Tag dahin.
Und wenn der Frühling ins Land kam und warmer segnender Sommer,
dann überströmten auch ihre Abende von inniger Schönheit… .
Sie saß dann am Klavier beim offenen Fenster. Von außen zitterte ein feiner
würziger Duft herein, wie ihn der erste Frühling bringt, und das Brausen der
Großstadt war fern wie ein Meer, das seine stürmischen Fluten gegen die
weißen Gestade wirft. Im Zimmer trällerte der Kanarienvogel die lustigsten
Läufe, und draußen vom Gang hörte man die Knaben des Nachbars mit ihren
tollen, übermütigen Spielen. Wenn sie aber zu spielen begann, dann wurde es
draußen still; leise, ganz leise ging dann die Tür auf, und ein Knabenkopf
nach dem anderen schob sich herein, um andächtig zu horchen. Und Erika
fand wehmütige Melodieen mit ihren weißen schmalen Fingern, die immer
heller und durchleuchtender zu werden schienen, dazwischen leise
Phantasieen, bei denen verhallte Erinnerungen anklangen.
Und einmal, als sie so spielte, kam ihr ein Motiv, dessen sie sich nicht
entsinnen konnte. Und sie spielte es immer wieder, bis sie es jählings
erkannte; das Volkslied, die wehmütige Liebesweise, mit der er sein
Liebeslied begonnen… ..
Da ließ sie die Finger sinken und träumte wieder von der Vergangenheit.
Ganz ohne Groll und Neid waren ihre Gedanken. Wer weiß, ob es nicht das
Beste gewesen, daß sie sich damals nicht gefunden… . Und ob sie sich
vertragen? Wer kann es wissen?… … . Aber … .. – sie schämte sich beinahe
des Gedankens – ein Kind hätte sie gerne von ihm gehabt, ein schönes
goldlockiges Kind, das sie hätte wiegen und warten können, wenn sie allein
war, ganz einsam war… … .
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik