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ginge. Alle Bitternis war verloschen in seinem Angesicht, das so milde und
begütigend durchleuchtet war, daß die spielenden Kinder aufstaunten und ihn
fürchtig grüßten, weil sie einen Priester in ihm zu sehen meinten. Er ging und
ging, ohne an Ziel und Ende zu denken, denn in seinen Gliedern drängte der
neue Frühlingstrieb, wie in alten verknisterten Bäumen die Blüten bittend an
den haltenden Bast klopfen, daß er ihre junge Kraft aufschießen lasse ins
Licht. Sein Schritt war froh und leicht wie der eines Jünglings; frischer und
lebendiger schien er zu werden, obgleich der Weg schon Stunden währte, und
rascher geschmeidiger Takt maß die rasch zurückgelegten Strecken.
Plötzlich hielt der Maler wie versteinert inne und fuhr sich mit der Hand
schützend über die Augen, wie einer, den ein blitzender Strahl verletzt oder
ein schrecksames und unglaubliches Ereignis. Aufschauend zum
sonneüberleuchteten Schein eines Fensters hatte er den vollen Strahl des
zurückspiegelnden Lichtes schmerzhaft in den Augen gefühlt, aber durch
jenen Nebel von Purpur und Gold war eine seltsame Erscheinung, ein
wunderbares Trugbild auf dem wirrenden Scharlachschleier erschienen: die
Madonna jenes jungen Meisters, träumerisch und leise schmerzlich
zurückgelehnt, wie auf jenem Bild. Ein Schauer überlief ihn, die grausame
Angst der Enttäuschung vereint mit jenem selig zitternden Rausch eines
Begnadeten, dem die wundersame Vision der Gottesmutter nicht im Dunkel
eines Traumes, sondern in Tageshelle erschienen, ein Wunder, das viele
bezeugten und wenige wirklich erschaut hatten. Noch wagte er den Blick
nicht zu erheben, weil er sich nicht stark genug fühlte, um den
niederschmetternden Augenblick unseliger Entscheidung auf seinen
zitternden Schultern tragen zu können, weil er fürchtete, daß diese eine
Sekunde sein Leben noch grimmiger zerstampfen könnte, als die unerbittliche
Selbstqual seines verzagten Herzens. Erst als seine Pulse langsamer und
ruhiger gingen und er nicht mehr schmerzvoll ihren Hammerschlag in der
Kehle spürte, raffte er sich auf und sah langsam, unter der überschattenden,
zitternden Hand zu jenem Fenster auf, in dessen Rahmen er das
verführerische Bild gesehn.
Er hatte sich getäuscht. Es war nicht das Mädchen von des jungen Meisters
Marienbild. Aber die erhobene Hand sank darum nicht verzagend herab.
Denn auch das, was er erschaute, schien ihm ein Wunder zu sein, wenn auch
ein viel lieblicheres, milderes und menschlicheres, als eines Gottes
Erscheinung, die im glühenden Strahl einer begnadeten Stunde erscheint. Nur
eine ferne und verlorene Ähnlichkeit hatte jenes Mädchen, das sich
nachdenklich über die leuchtende Brüstung des Fensters lehnte, mit jenem
Altarbild: auch ihr Gesicht war von schwarzen Locken umfaltet, und auch sie
blühte in jener geheimnisvollen und phantastischen Blässe, aber ihre Züge
waren härter, geschärfter, fast zornig, und um den Mund legte sich ein
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik