Page - 77 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Augen schaute: »Willst du dich nicht einen Augenblick zu mir setzen.«
Das Mädchen sah ihn erstaunt an, im tiefsten überrascht durch diesen tiefen
Glockenton der Milde und geklärten Liebe, der ihr zum ersten Mal aus dem
verräucherten Dunkel der Schenke entgegenschlug. Und sie fühlte die Milde
seiner Hände und die zärtliche Güte seiner Augen mit dem süßschauernden
Erschrecken derer, die Wochen und Jahre nach Zärtlichkeit hungern und sie
eines Tages mit staunender Seele empfangen. Ihres toten Großvaters Bild
erstand jäh in ihrem inneren Blick, als sie dieschneeige Milde dieses Hauptes
umfaßte, und vergessene Glocken schlugen an in ihrem Herzen und schlugen
so laut und jubelnd durch alle Adern und bis in die Kehle hinauf, daß sie kein
Wort der Antwort wußte. Sie errötete nur und nickte heftig, fast wie im Zorn,
so eckig und hart in der plötzlichen Bewegung. Bangend und erwartend folgte
sie ihm an seinen Platz und setzte sich halb an seine Seite, ohne die Bank
recht zu berühren.
Der Maler beugte sich zärtlich zu ihr nieder, ohne zu sprechen. Vor dem
klaren Blick des alten Mannes glühte jäh die Tragödie der Einsamkeit und
stolzen Fremdheit auf, die so früh schon in diesem Kinde kämpfte. Am
liebsten hätte er sie an sich gezogen und ihr einen segnenden, beruhigenden
Kuß auf die Stirne gedrückt, aber er fürchtete sie zu erschrecken und fürchtete
die Augen der andern, die einander lachend die seltsame Gruppe zeigten. Er
verstand dieses Kind so ganz, ohne ein Wort von seinen Lippen zu wissen,
und ein brennendes Mitleid stieg in ihm empor, wie eine heiße strömende
Flut, denn er kannte die Schmerzlichkeit jenes Trotzes, die nur so hart und
jähzornig und drohend ist, weil er Liebe ist, eine große und unfaßbare Fülle
der Liebe, die sich verschenken will und sich verstoßen fühlt. Sanft fragte er
sie: »Wie heißt du, Kind?«
Sie sah vertrauend, aber verwirrt zu ihm auf. Noch war ihr alles zu seltsam,
zu fremd. Und ein schüchternes Zittern lag in ihrer Stimme, als sie leise und
sich halb abwendend sagte »Esther.«
Der alte Mann aber fühlte dennoch, daß sie Vertrauen zu ihm hege, es nur
noch nicht zu zeigen wage. Und sanft begann er:
»Ich bin ein Maler, Esther, und ich will dich malen. Es wird dir nichts
Übles geschehen, und du wirst manches Schöne bei mir sehen und manchmal
werden wir vielleicht zusammen sprechen, wie gute Freunde. Nur eine oder
zwei Stunden wird es jeden Tag dauern, so lange, als es dir behagt. Willst du
zu mir kommen, Esther?«
Das Mädchen wurde noch röter und wußte nicht zu antworten. Dunkle
Rätsel taten sich plötzlich vor ihr auf, zu denen sie keine Wege fand.
Schließlich sah sie mit einem unruhig fragenden Blick den Wirt an, der
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik