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Der alte Mann blieb in tiefem Sinnen zurück. Der Glaube an das Wunder
war ihm nicht fremd geworden, aber das Wunder war ihm viel feierlicher und
göttlicher erschienen, da es ihm nur ein Spiel des Lebens von göttlicher Hand
dünkte. Und er entsagte dem Gedanken, Glauben an mystische Verheißungen
in einem Antlitz aufleuchten zu lassen, dessen Seele vielleicht schon zu
verzagt war, um noch zu glauben. Nicht mehr überheben wollte er sich und
Mittler Gottes sein, sondern nur schlichter Diener, der ein Bild nach bestem
Mühen schafft und es demütig am Altare niederlegt, sowie ein andrer eine
Gabe. Er fühlte den Fehler, den Zeichen nachzugehen und sie zu suchen, statt
zu warten, bis ihre Stunde käme und sie sich ihm offenbarten… .
Tiefer und tiefer neigte sich sein demütiges Herz. Warum hatte er Wunder
wirken wollen an diesem Kinde, die ihm niemand geheißen? War es nicht
genug Gnade, daß in sein Leben, das schon leer und kahl wurzelte wie ein
alter Stamm, der nur noch mit den Ästen sehnsüchtig ins Blau aufgriff, ein
andres junges Leben getreten war, das sich ängstlich und vertrauensvoll an
ihn schmiegte? Ein Wunder des Lebens war ihm geschehen, das fühlte er; die
Gnade war ihm geworden, die Liebe, die seine späten Tage noch
überflammte, geben und lehren zu dürfen, sie einzusenken wie einen Samen,
der noch wundersam entblühen kann. Hatte ihm das Leben nicht genug damit
gegeben? Und hatte ihm nicht Gott den Weg gewiesen, auf welchem er ihm
dienen sollte? Eine Gestalt hatte er seinem Bilde ersehnt und, sie war ihm
begegnet; war dies nicht Gottes Wille, daß er sie zum Bildnis schüfe, und
nicht, daß er ihre Seele einem Glauben zuführte, den sie vielleicht nie würde
verstehen können? Tiefer und tiefer neigte sich sein demütiges Herz.
Der Abend kam in sein Zimmer und die Dunkelheit. Der alte Mann stand
auf; er fühlte eine Unrast und ein Bangen in sich, wie selten in seinen späten
Tagen, die sonst so lind waren wie kühle klärende Herbstsonne. Langsam
entzündete er das Licht. Dann ging er hin zum Schrank und suchte ein altes
Buch. Sein Herz war aller Unrast müde. Er nahm die Bibel, küßte sie mit
bebender Inbrunst; dann schlug er sie auf und las bis in die späte Nacht… .
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik