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Die Liebe der Erika Ewald
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unwillkommen war, sondern in die Armut ihres einsamen Tages reiche Worte und freudige Minuten säte, hörte sie zu ihrer Überraschung die Stimme des Malers nebenan in freundlicher Wechselrede mit einer derben, bäuerlichen Frauenstimme, die sie nicht kannte. Neugierig horchte sie hin, ohne aber deutliches vernehmen zu können. Bald verstummte die Frauenstimme, eine Tür fiel ins Schloß und schon trat der alte Mann herein und auf sie zu, etwas Helles in den Armen tragend, das sie beim ersten Anblick nicht erkannte. Und vorsorglich legte er ihr ein kleines, nacktes, derbes Kind von mehreren Monaten in den Schoß, das sich anfänglich unruhig bewegte, dann aber unbeweglich blieb. Esther sah mit erstarrten Augen den alten Mann an, von dem sie so sonderbaren Scherz nicht erwartet hatte. Doch dieser lächelte nur und schwieg. Und als er sah, daß sich ihre ängstlich fragenden Blicke nicht von ihm abwenden wollten, erklärte er ihr ruhig und mit bittendem Tone seine Absicht, sie mit dem Kinde auf dem Schoße zu malen. Die ganze Herzlichkeit und Güte seiner Augen legte er in diese Bitte. Die tiefe väterliche Liebe, die er zu diesem fremden Mädchen gefaßt hatte und das innige Vertrauen auf ihr unruhiges und gläubiges Herz durchleuchteten seine Worte und noch sein beredtes Schweigen. Esthers Gesicht war blutig überloht. Eine unbändige innere Scham zerquälte sie. Kaum wagte sie mit einem ängstlichen Seitenblick das kleine, blühende, nackte Kind zu betrachten, das sie auf ihren erzitternden Knieen widerwillig hielt. Die Strenge des ganzen Volkes, in dessen Abscheu der Nacktheit sie erzogen war, ließen sie dieses gesundfröhliche und jetzt ruhig schlummernde Kind mit Ekel und geheimer Furcht betrachten; sie, die unbewußt vor sich selbst ihre Nacktheit verhüllte, schauerte zurück vor der Berührung dieses weichen, rötlichen Fleisches wie vor einer Sünde. Eine Angst war in ihr, und sie wußte nicht, warum. Alle Stimmen in ihr streckten ängstlich ihre rufenden Arme aus, aber das harte, kurze Nein wollte nicht den milden begütigenden Worten dieses alten Mannes entgegen, den sie mit wachsender Liebe verehrte. Sie fühlte, daß sie ihm nichts verweigern konnte. Und sein Schweigen und die Frage seiner gespannt wartenden Blicke lasteten so schwer auf ihr, daß sie hätte aufschreien mögen, blind, tierisch, ohne Zweck und ohne Worte. Wahnsinnig packte sie der Haß gegen dieses ruhig schlummernde Kind, das in den Frieden ihrer einzig stillen Stunde hereingebrochen war und ihre träumerische Traulichkeit zerstörte. Aber sie fühlte sich schwach und wehrlos gegen die gütige Weise dieses alten geruhigen Mannes, der wie ein weißer, einsamer Stern über ihrem dunklen, tiefen Leben stand. Und wieder, wie zu jeder seiner Bitten, neigte sie demütig und verwirrt das Haupt. Da sprach er nicht weiter, sondern machte sich daran das Bild zu beginnen. Zunächst zeichnete er nur den Umriß. Denn, um den inneren Gedanken seines 88
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Die Liebe der Erika Ewald
Title
Die Liebe der Erika Ewald
Author
Stefan Zweig
Date
1904
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
114
Keywords
Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Die Liebe der Erika Ewald 5
  2. Der Stern über dem Walde 46
  3. Die Wanderung 56
  4. Die Wunder des Lebens 61
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