Page - 88 - in Die Liebe der Erika Ewald
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unwillkommen war, sondern in die Armut ihres einsamen Tages reiche Worte
und freudige Minuten säte, hörte sie zu ihrer Überraschung die Stimme des
Malers nebenan in freundlicher Wechselrede mit einer derben, bäuerlichen
Frauenstimme, die sie nicht kannte. Neugierig horchte sie hin, ohne aber
deutliches vernehmen zu können. Bald verstummte die Frauenstimme, eine
Tür fiel ins Schloß und schon trat der alte Mann herein und auf sie zu, etwas
Helles in den Armen tragend, das sie beim ersten Anblick nicht erkannte. Und
vorsorglich legte er ihr ein kleines, nacktes, derbes Kind von mehreren
Monaten in den Schoß, das sich anfänglich unruhig bewegte, dann aber
unbeweglich blieb. Esther sah mit erstarrten Augen den alten Mann an, von
dem sie so sonderbaren Scherz nicht erwartet hatte. Doch dieser lächelte nur
und schwieg. Und als er sah, daß sich ihre ängstlich fragenden Blicke nicht
von ihm abwenden wollten, erklärte er ihr ruhig und mit bittendem Tone seine
Absicht, sie mit dem Kinde auf dem Schoße zu malen. Die ganze Herzlichkeit
und Güte seiner Augen legte er in diese Bitte. Die tiefe väterliche Liebe, die
er zu diesem fremden Mädchen gefaßt hatte und das innige Vertrauen auf ihr
unruhiges und gläubiges Herz durchleuchteten seine Worte und noch sein
beredtes Schweigen.
Esthers Gesicht war blutig überloht. Eine unbändige innere Scham
zerquälte sie. Kaum wagte sie mit einem ängstlichen Seitenblick das kleine,
blühende, nackte Kind zu betrachten, das sie auf ihren erzitternden Knieen
widerwillig hielt. Die Strenge des ganzen Volkes, in dessen Abscheu der
Nacktheit sie erzogen war, ließen sie dieses gesundfröhliche und jetzt ruhig
schlummernde Kind mit Ekel und geheimer Furcht betrachten; sie, die
unbewußt vor sich selbst ihre Nacktheit verhüllte, schauerte zurück vor der
Berührung dieses weichen, rötlichen Fleisches wie vor einer Sünde. Eine
Angst war in ihr, und sie wußte nicht, warum. Alle Stimmen in ihr streckten
ängstlich ihre rufenden Arme aus, aber das harte, kurze Nein wollte nicht den
milden begütigenden Worten dieses alten Mannes entgegen, den sie mit
wachsender Liebe verehrte. Sie fühlte, daß sie ihm nichts verweigern konnte.
Und sein Schweigen und die Frage seiner gespannt wartenden Blicke lasteten
so schwer auf ihr, daß sie hätte aufschreien mögen, blind, tierisch, ohne
Zweck und ohne Worte. Wahnsinnig packte sie der Haß gegen dieses ruhig
schlummernde Kind, das in den Frieden ihrer einzig stillen Stunde
hereingebrochen war und ihre träumerische Traulichkeit zerstörte. Aber sie
fühlte sich schwach und wehrlos gegen die gütige Weise dieses alten
geruhigen Mannes, der wie ein weißer, einsamer Stern über ihrem dunklen,
tiefen Leben stand. Und wieder, wie zu jeder seiner Bitten, neigte sie demütig
und verwirrt das Haupt.
Da sprach er nicht weiter, sondern machte sich daran das Bild zu beginnen.
Zunächst zeichnete er nur den Umriß. Denn, um den inneren Gedanken seines
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik