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Werkes darzustellen, war Esther noch viel zu unruhig und zu verwirrt. Der
träumerische Ausdruck war gänzlich gewichen. In ihren Blicken lag etwas
Krampfhaftes und Gezwungenes, weil sie es unausgesetzt vermied, dem
Anblick des nackten schlafenden Kindes auf ihrem Schoße zu begegnen und
in endloser stumpfer Wiederholung die Wandhöhe mit den ihr innerlich
gleichgültigen Bildern und Zierraten fixierte. Auch in ihren Händen war
dieser Ausdruck der Gezwungenheit und Steifheit von der Furcht
aufgezwungen, sie möchte den Körper berühren müssen. Dazu fühlte sie die
Last schwer auf den Knieen, ohne eine Regung zu wagen. Nur ein gespannter
Zug in ihrem Gesichte verriet stärker und stärker die qualvolle Anstrengung,
so daß der Maler schließlich selbst, obwohl er nicht ihren ererbten Abscheu,
sondern nur mädchenhafte Scheu voraussetzte, ihr Unbehagen zu ahnen
begann und die Sitzung unterbrach. Das Kind schlief ruhig weiter, wie ein
sattes Tier, und merkte nichts, wie es der Maler mit sorgfältigen Händen von
dem Schoße des Mädchens abhob und es im Nebenzimmer auf das Bett legte,
wo es blieb, bis seine Mutter, eine derbe holländische Schiffersfrau, die für
einige Zeit nach Antwerpen verschlagen war, es wieder abholte. Aber, ob man
sie auch von der körperlichen Last befreit, fühlte sich Esther doch noch von
dem Gedanken schwer bedrückt, daß Tag für Tag sie gleiche Bangigkeit
erfüllen sollte.
Unruhig ging sie und unruhig kam sie wieder in den nächsten Tagen. Im
geheimen hegte sie die Hoffnung, daß der Maler auch diesen Plan aufgeben
würde und der Entschluß wurde drängender und überquellender, ihn mit
einem ruhigen Worte darum zu bitten. Aber nie vermochte sie es; ein innerer
Stolz oder eine geheime Scham hielten die Worte zurück, die schon auf ihren
Lippen zuckten, so wie schwungbereite Vögel, die prüfend ihre Schwingen
flattern lassen, bereit, sich im nächsten Augenblicke frei emporzustoßen in
die Luft. Aber während sie Tag für Tag kam und ihre Unruhe gewissermaßen
schon mit sich trug, wurde diese Scham nach und nach eine unbewußte Lüge,
denn sie hatte sich schon damit vertraut gemacht, wie mit einer
lästigenSelbstverständlichkeit. Es fehlte nur noch der Augenblick der
Erkenntnis. Das Bild schritt inzwischen wenig fort, obwohl der Maler ihr es
mit vorsichtigen Worten andeutete. In Wirklichkeit umfaßte sein Rahmen nur
die leeren und unwichtigen Linien der Gestalten und ein paar flüchtige
versuchende Tönungen. Denn der alte Mann wartete, bis Esther sich mit dem
Gedanken ausgesöhnt hätte und suchte nicht zu beschleunigen, was er mit
Sicherheit erhoffte. Vorläufig kürzte er nur die Stunden der Sitzungen und
sprach viel von allerlei gleichgültigen Dingen, die Anwesenheit des Kindes
und Esthers unruhige Erregung mit Absicht übersehend. Er schien heiterer
und sicherer als je.
Und sein Vertrauen betrog ihn diesmal nicht. Denn einer dieser Vormittage
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik