Page - 101 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Endlich konnte er zu ihr sprechen. Aber Esther hörte ihn nicht. In ihren
feuchten und starren Augen stand ein einziges Bild, und ein Gedanke erfüllte
ihr Empfinden. Wie aus Fieberphantasieen stammelte sie fort. »Wie lieb es
lachte… Mir gehörte es ja nur, mir ganz allein… .. Diese vielen schönen
Tage… . Ich war seine Mutter… Und ich soll es nicht mehr haben… Wenn
ich es nur sehen könnte, nur noch einmal sehen… .. Nur sehen, nur einmal…
..« Und wieder verlosch die Stimme in hilfloses Schluchzen. Langsam war sie
von der Brust des alten Mannes herabgesunken und umklammerte mit den
matten, durchschauerten Händen nur noch seine Kniee, ganz
zusammengekauert in die fließende Flut ihrer schwarzen Strähnen. Ihr
zerknickter zuckender Körper mit dem überwallten und versteckten Antlitz
schien wie zerschmettert von zornigem Schmerz. Und monoton, mit
verlorenen erschlafften Gedanken lallte sie das Wort immer wieder. »Nur
sehen … nur einmal sehen … nur einmal … .. nur sehen.«
Tief beugte sich der alte Mann zu ihr herab.
»Esther!«
Sie rührte nicht ein Glied. Die Lippen lallten noch die Worte weiter ohne
Sinn und Betonung. Er wollte sie emporheben; ihr Arm, den er faßte, war
kraftlos und ohne Regung wie ein abgebrochner Ast; schlaff fiel er wieder
zurück. Nur die Lippen stammelten eintönig und unbewußt ihren traurigen
Spruch weiter. »Nur einmal … . nur sehen … nur einmal sehen… «
Da überkam ihn ein seltsamer Gedanke in seiner suchenden Ratlosigkeit.
Er neigte sich zu ihrem Ohre. »Esther! Du sollst es sehen, einmal und so oft
du willst!«
Sie fuhr auf, wie aus einem Traum gerüttelt. Durch alle Glieder schienen
diese Worte zu fließen, denn jähe Bewegung erfaßte ihren Körper, und sie
richtete sich auf. Langsam schien die Klarheit wiederkehren zu wollen. Noch
war ihr der Gedanke nicht ganz klar, denn instinktiv glaubte sie nicht an ein
so großes Glück, das sich aus dem Schmerze wieder erschließen sollte.
Unsicher sah sie den alten Mann an, wie mit schwankenden Sinnen. Sie
begriff ihn nicht ganz und wartete auf seine Worte. Alles war ihr so unklar.
Aber er sprach nicht, er sah sie nur mit gütiger Verheißung an und nickte ihr
zu. Lind umfaßte er sie mit seinem Arm, als hätte er Angst, ihr wehe zu tun.
Es war also kein Traum und nicht die Lüge eines Augenblicks. Ihr Herz
schlug und schlug in wirrer Erwartung. Willig wie ein Kind ging sie an ihn
gelehnt, ohne ein Ziel zu wissen. Aber er führte sie nur ein paar Schritte bis
zur Staffelei. Und mit rascher Bewegung löste er das hüllende Tuch von dem
Bilde.
Im ersten Augenblicke blieb Esther reglos. Ihr Herz stand still wie erstarrt.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik