Page - 103 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Lange blieben sie noch beide zusammen. Sie begannen wieder zu sprechen,
wie in alter Zeit, aber ruhiger und geklärter, wie zwei Menschen, die sich
nicht mehr suchen müssen, sondern sich ganz verstehen. Esther war still
geworden. Der Anblick dieses Bildes hatte sie seltsam berührt und sie so selig
gemacht, weil er ihr das Glück ihrer schönsten Erinnerung wieder schenkte,
weil sie ihr Kind wieder besaß, aber nun viel heiliger, viel tiefer und
mütterlicher als in der Wirklichkeit. Denn nun war es nur ganz mehr Hülle
ihres Traumes, ganz eigen und ganz ihre Seele. Nun konnte es niemand mehr
nehmen. Dies Bild gehörte ihr allein, wenn sie es sah, und sie durfte es ja
immer sehen. Gerne hatte der alte, von mystischen Ahnungen durchschauerte
Mann ihr die zage Bitte verstattet. Nun hatte sie Tag für Tag gleiche Seligkeit
und Lebensfülle, ihre Sehnsucht mußte nicht mehr bangen und begehren; und
diese kleine blühende Gestalt, die den andern der Heiland der Welt war, war
auch dem einsamen Judenkinde unbewußt ein Gott der Liebe und des Lebens.
So kam sie noch einige Tage. Doch der Maler besann sich seines Auftrags,
den er beinahe vergessen hatte. Der Kaufherr kam, das Bild zu betrachten,
und auch ihn, der nichts von den heimlichen Wundern dieser Schöpfung
wußte, überwältigte die milde Form der Muttergüte und die schlichte Weihe
des ewigen Symboles in diesem Bilde. Begeistert drückte er seinem Freunde
die Hand, der alle Lobsprüche mit bescheidener und frommer Gebärde
zurückwies, als sei es nicht sein eigen Werk, vor dem er stand. Und sie
beschlossen nicht länger dem Altare seinen Schmuck vorzuenthalten.
Am folgenden Tage schon schmückte das Bild den andern Altarflügel, der
verwaist gewesen. Und seltsam war nun dieses fremde Paar der beiden
Madonnen mit ihrer leichten Ähnlichkeit und so verschiedener Gebärde. Wie
zwei Schwestern schienen sie, von denen die eine noch der Süße des Lebens
sich vertrauend hingibt, während die andere schon die dunkle Frucht des
Schmerzes verkostet hat und die Schauer ferner Zeiten kennt. Aber über
beider Haupt leuchtete ein gleicher Schein, als ob über ihnen Sterne der Liebe
glühen würden, unter denen ihr Weg ein Leben lang ginge durch Freude und
durch Schmerzlichkeit… ..
Und auch in die Kirche folgte Esther dem Bilde, als sei es ihr eigen Kind,
das sie hier finde. Langsam verrauschte die Erinnerung in ihr, daß ihr das
Wesen fremd war, und ein Mutterglaube erwachte, der einen Traum zur
Wahrheit werden ließ. Stundenlang lag sie hingestreckt vor dem Bilde, wie
eine Gläubige vor des Heilands Bild. Um sie lebte ein andrer Glaube; die
Glocken riefen mit ihren donnernden Zungen zu einer Andacht, die sie nicht
kannte, Priester, deren Worte sie nicht verstand, sangen tiefe brausende
Chöre, die wie dunkle Wellen die Kirche durchrauschten und aufflogen in die
mystische Dämmerung, die wie eine duftende Wolke hoch, hoch über dem
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik