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34 Es dürfte an dieser Stelle angebracht sein, einige Hinweise über den öffentli-
chen und privaten Verkehr während dieser Jahre zu geben, doch soll von einer
streng chronologischen Gliederung abgegangen werden, da die Entwicklung
der eingeschränkten Mobilität über einen beachtlichen Zeitraum und somit zeit-
überschreitend gesehen werden kann. Der Vergleich ist deshalb möglich, da ab
Kriegsbeginn die Zahl der Kraftfahrzeuge und Fahrzeuge eine leicht fallende
Tendenz mit einem Tiefpunkt zu Beginn des Jahres 1945 und dann einen lang-
samen Anstieg bis 1955 aufweist. Es sei vorweggenommen, dass man sich,
meist als Wochenendbeschäftigung, auf die Instandhaltung und Reparatur der
alten Fahrzeuge konzentrierte, denn Neufahrzeuge waren fast nicht zu erhal-
ten: Die Industrie war auf Rüstung fokussiert, nicht auf den privaten Bedarf.
Rauchende Fabrikschlote galten als Garant für Fortschritt und Wohlstand.
Um von A nach B zu gelangen, ging man vorwiegend zu Fuß. Das Maß aller
Dinge war der Fußmarsch, die zeitliche Angabe von Distanzen war auf diesen
ausgerichtet – und ein Marsch von einer Stunde durch die Stadt war Alltag und
keine Ausnahme. So blieben wir alle schlank und waren flott unterwegs, vor
allem, wenn es um das Anstellen um begehrte Lebensmittel ging.
Der Besitz eines einfachen Fahrrades, z.B. eines Waffenrades von Steyr, brach-
te hohes Ansehen und Bewunderung bei den Schulkollegen. Dieses Rad war
ein schweres, aber sicheres Gefährt, ohne Gangschaltung, aber hart zu fahren
und hart im Nehmen – übrigens mit einer Nummerntafel an der vorderen Gabel
versehen. Die liebevolle Pflege eines Fahrrades bedeutete ein Zeremoniell!
Der Besitz eines Motorrades (einer „Maschin“) war ebenfalls etwas Außer-
gewöhnliches. Nur wenige, meist sehr laute Motorräder konnte man auf den
Straßen sehen. Es waren dies meist Kraftfahrzeuge österreichischer Proveni-
enz, meist von der Firma Puch, mit Hand-Kulissenschaltung an der rechten Sei-
te der Benzinwanne und kaum gefedert, doch häufig mit einem Soziussitz aus-
gestattet – im Volksmund „Pupperlhutschn“ für die „Klammerbraut“ genannt.3
Beliebt waren auch Beiwagenmaschinen. Da die meisten Motoren Zweitakter
waren, erfüllte durch das Benzingemisch ein „blauer Dunst“ die Straßen. Über
den Winter hatte man, da die Fahrbedingungen suboptimal waren, das Motor-
rad meist polizeilich abgemeldet. Nach dem Krieg kam zunächst die 125-ccm
Puch, anfänglich noch mit Parallelogrammfederung, dann mit Teleskopfede-
rung des Vorderrades, auf den Markt, gefolgt von der fast legendären, gel-
ben „Eierspeis“-Puch 250 und der roten, sportlichen Variante. Diese wurden
dann von größeren und schweren, vor allem ausländischen Modellen abgelöst.
Großes Aufsehen erregten immer wieder die schweren Polizeimaschinen der
Privater und
öffentlicher Verkehr
3 Im österreichischen Sprachgebrauch bezeichnete der Begriff „Pupperlhutschn“ ein zweisitziges
Motorrad, „Klammerbraut“ wurde scherzhaft die junge Frau auf dem Soziussitz genannt, die sich
am Fahrer festhält oder „-klammert“.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115