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70 Die Rückfahrt erfolgte auf ähnliche Weise und auf derselben Route, doch war
man froh, wenn man mit etwas Essbarem im Rucksack, angestaubt und zer-
rüttet von den holprigen Straßen, wieder heil in der Nähe des Westbahnhofs
angekommen war.
Unser Haustor war wegen des durch die Bombenangriffe ausgelösten Luft-
drucks zum Großteil zertrümmert, sodass es weder auf- noch zugesperrt
werden konnte. So musste über Tag ein Schließdienst eingerichtet werden, zu
dem alle Hausparteien im Stundenrhythmus eingeteilt wurden. Dies funktio-
nierte weitgehend und in der Nacht wurde die Haustür, soweit dies ging, ver-
barrikadiert. Da es noch ein Hinterhaus gab, war das Problem damit noch nicht
vollkommen gelöst. So organisierten einige Männer des Hauses – mein Vater
war auch dabei – die Bordwände eines zerstörten Lkws, zerschnitten diese
auf die Flurbreite und errichteten zwischen zwei etwas vorspringenden Pfei-
lern eine etwa einen Meter breite Doppelwand, die mit einem starken Lichtka-
bel, das wir „organisiert“ hatten, verspannt wurde. Den Zwischenraum füllten
wir mit einfachen Mauerziegeln, die wir von einem naheliegenden zerbombten
Haus ebenfalls „organisiert“ hatten, und auf diese Weise entstand eine solide
Trennwand. Sie war für uns über Monate sehr hilfreich.
Selbstverständlich war auch unsere Wohnung oft das Ziel eines „Besuches“
von Soldaten. Da wir schon von weitem den Lärm der genagelten Stiefel im
Stiegenhaus hörten, öffneten wir gleich bereitwillig die feste Eingangstüre. So
blieb die Tür verschont, nicht aber wir.
An ein Erlebnis kann ich mich noch besonders gut erinnern: Der Soldat war
leicht betrunken und brachte eine volle Flasche Schnaps mit, vermutlich Sli-
wowitz, die er „organisiert“ hatte. Er lud uns alle auf einen Umtrunk ein. Wir
mussten gute Miene zu diesem Spiel machen, mein Vater bekam gleich ein
Wasserglas zur Hälfte angefüllt und sollte es austrinken. So gut er konnte,
unterzog er sich dieser Aufgabe. Der Soldat blickte sich in der Wohnung etwas
um, entdeckte keinen deutschen Soldaten und auch sonst kein Objekt seiner
Begierde. Uns Kindern wollte er dann zeigen, wie ein Gewehr funktionierte.
Er entsicherte das Gewehr und schoss, wenige Meter von uns entfernt, ein
scharfes Geschoß in den Plafond. Der Knall war in dem geschlossenen Zimmer
ohrenbetäubend und wir brachen in lautes Weinen aus. Auch meine Eltern wa-
ren dem Schock nahe. Der Soldat dürfte unsere Bestürzung gesehen haben
und verließ dann sehr rasch unsere Wohnung.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115