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digte Objekte hieß: Türstöcke und Fensterstöcke waren durch den Luftdruck
von nahen Bombeneinschlägen um Zentimeter verschoben. Überall klaffte
ein kleiner Hohlraum und es klemmte ein wenig in den Ecken, doch Türen und
Fenster waren noch einigermaßen funktionstüchtig. Der Putz war von den
Wänden teilweise heruntergefallen, der Plafond zeigt einen durchhängenden
„Bauch“ und die Fließen im Badezimmer hatten sich von der Wand gelöst, wa-
ren aber nicht zerbrochen, da sie in die mit Wasser für Löschzwecke gefüllte
Badewanne gefallen waren.
Mein Vater ging wieder ins Büro, das zwar ohne Fensterscheiben und ohne
Heizung war, aber man musste sich „durchg’fretten“, und saß im Mantel für
einige Stunden bei der Arbeit, um das Wichtigste zu besprechen und zu erle-
digen. Der Heimweg gestaltete sich schwierig, denn die Russen zwangen die
Männer oftmals auf offenerer Straße mit vorgehaltener Maschinenpistole für
einige Stunden zum Schuttwegräumen. Hatte man diese Arbeit so halbwegs
erledigt, konnte man den restlichen Heimweg antreten. So waren wir oft in
Sorge, bis mein Vater verspätet und ermüdet heim kam.
Es kam mehrmals vor, dass sich die Russen der Kleider von Männern bemächtig-
ten. Diese wurden auf der Straße bis auf die Unterhose ausgezogen und konn-
ten dann heimziehen. Dies war der Stoff für die Umdichtung des Titels eines
bekannten Märchens: „Von einem, der sich fürchtete, ausgezogen zu werden.“
Für die vier Besatzungsmächte war zu propagandistischen Zwecken der Be-
sitz von Rundfunkeinrichtungen von besonderem Wert. Wir wohnen im 4. Be-
zirk, in diesem befand und befindet sich noch immer das Hauptgebäude des
Rundfunks. Dieses wurde von den russischen Besatzungsmächten sofort in
Beschlag genommen und von dort wurde nicht nur das zensurierte, österrei-
chische Programm über eine eigene Hausantenne ausgestrahlt, sondern auch
mehrmals am Tage die oft penetrant pro-russische und anti-amerikanische
Propagandasendung in der Reihe „Russische Stunde“. Doch auch in den übri-
gen Bundesländern etablierten sich unter Kontrolle er jeweiligen Besatzungs-
macht neue Sender, wie „Alpenland“ und „Rot-Weiß-Rot“.
Gewissermaßen als Kontrapunkt zu den russischen Radiosendungen in Wien
veranstalteten die britischen Truppen oftmals ein opulentes „Military Tattoo“
im Schlosspark von Schönbrunn, mit Aufmarsch verschiedener Truppeneinhei-
ten wie auch schottischen Dudelsackpfeifern, die einen besonders positiven
Eindruck hinterließen, und einem abschließenden kleinen Feuerwerk.9
9 Die Bezeichnung Tattoo für eine Parade basiert auf der im 17. und 18. Jahrhundert in englischen
Gaststätten gebräuchlichen Aussage „Doe den tap toe“, die das bevorstehende Schließen der
Gaststätte – den Zapfenstreich – ankündigte. In der Folge wurde der Begriff für einen festlichen
Zapfenstreich übernommen.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115