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chen, um in drei Steingutkrügen dem Auftrag nachzukommen. Ganz einfach
war es ja nicht, denn die Soldaten waren ubiquitär, doch Kinder waren relativ
sicher. Sicher war auch, dass auch wir ein Durstgefühl verspürten und es bei
jedem „Einsatz“ durch einen kräftigen Schluck aus dem Steingutkrug stillten.
So hatten wir langsam auch den Pegel der Gesellschaft von daheim erreicht,
vielleicht auch etwas überschritten. Meine Erinnerung ist aber noch vorhan-
den: So weiß ich genau, wie mein Vater das Gästebuch zur Hand nahm und in
seiner schönen Handschrift eine entsprechende Eintragung machte, die dann
von allen Gästen unterschrieben wurde. War es die Erregung oder doch die
Auswirkung des Sturm-Genusses – jedenfalls hat mein Vater seine Eintragung
mehrmals korrigieren müssen.
Es stand niemals zur Debatte, ob der in den Apriltagen des Jahres 1945 zum
Großteil niedergebrannte Stephansdom und die fast völlig ausgebrannte
Staatsoper wieder aufgebaut werden sollen oder nicht – es war dies nur eine
Frage der Zeit. Im Stephansdom wurde sofort im Hauptschiff vor dem Chor
eine hölzerne Trennmauer aufgezogen, die dann verkleidet wurde, sodass die
Restaurierungsarbeiten im völlig zerstörten Chor durchgeführt und im Haupt-
schiff bald wieder Gottesdienste abgehalten werden konnten; in der Zwi-
schenzeit wurden die Messen in der Kirche Am Hof zelebriert.
In der Operngasse wurde eine Verladerampe für den Schutt der Staatsoper
eingerichtet, damit dieser auf Plateauwägen der Wiener Straßenbahn ab-
transportiert werden konnte. Es war dies eine über Jahre in Betrieb stehende
Anlage und wir glaubten kaum mehr, dass die Staatoper irgendwann wieder in
vollem Glanz erstrahlen sollte.
Mitte April 1945 war Wien gefallen, doch schon rund zwei Woche später, als
noch der Krieg tobte, hatte Österreich eine provisorische Staatsregierung.
Schon am 1. Mai – der Krieg war noch nicht zu Ende, Österreich aber schon
befreit – wurde im „Haus am Gürtel“ wieder Oper („Die Hochzeit des Figaro“) ge-
spielt, gastierte das Burgtheater im Ronacher und im Konzerthaus musizierten
wieder die Wiener Philharmoniker. Auf dem Heldenplatz – ich war dabei – spiel-
ten die Hoch- und Deutschmeister unter der Stabführung von Julius Hermann
(„Der blecherne Furtwängler“) groß auf. Es war dies nach Ende des Krieges das
erste Volksfest mit österreichischen Märschen, Polkas und Walzern.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115