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Mit den Mitteln der Disziplin
des Œuvres verschiedener befreundeter Künstler und Künstlerinnen vor.6 Betrachtet
man die Tagebücher über die Jahre hinweg, so treten intellektuelle Schwerpunkte
hervor, die in der deutschsprachigen Forschung bisher praktisch unbeachtet geblie-
ben sind. Sie weisen den Weg zur Grafikspezialistin. „She is an outstanding specialist
on the field of old masters’ drawings and early engravings and, to tell the truth, I
doubt that there is any person living, combining such a thorough knowledge both of
German and Italien graphic art (and even of French, on which she published a book)
as she has“7, so Hans Tietze im März 1938, als es darum ging, das Berufsleben neu
auszurichten.
In einem Brief an Sohn Andreas – denn auch mit ihren Kindern erörterte sie
gelegentlich kunstwissenschaftliche Fragen – kommt Erica Tietze-Conrat im Zu-
sammenhang mit Hans Tietzes Tintoretto-Monografie auf die gemeinsame Arbeit
zu sprechen : „Ich habe heute mit dem Abtippen des Tintoretto angefangen ! Am
Sonntag habe ich das Manuskript gelesen, es ist sehr knapp und schön disponiert,
ganz ohne Längen, alles Kunsthistorisch-Kritische, auf Literatur etc. Eingehende in
die Anmerkungen zu den Abbildungen verlegt. […] Wenn ich denke, wie hinausge-
schmissen ich mich gefühlt habe, wie der Papa die große Arbeit über die gotischen
Architekturpläne gearbeitet hat ! Jetzt fühle ich mich bei jedem Wort, bei jedem Ge-
danken angesprochen (im wörtlichen Sinn !), bei jeder Tatsache vorher gefragt (das
nicht wörtlich). Die Art unseres Zusammenarbeitens ist wirklich einzig.“8 An anderer
Stelle thematisiert Erica Tietze-Conrat die Differenzen in der Herangehensweise :
„Ich teile Kunsthistoriker ein in Weitsichtige u. Kurzsichtige“, schreibt sie dem be-
freundeten Kunsthistoriker Erwin Panofsky. „Ich gehöre zu den Kurzsichtigen ; 2/3
meiner (viel zu großen) Publikatio[nen] hat Fakten herausgebracht, die für alle Zei-
ten richtig sind (z. B. Nachweise, daß angewandte Kunstwerke von Stichen abhängig
sind, Zuschreibungen von Skulpturen auf Grund gleichzeitiger Stiche, unlängst die
Komposition einer verbrannten Tiziandecke auf Grund einer Rubenszeichnung u.
eines ,Programms‘ und ähnliches Kleinzeug). Kurzsichtige Augen sehen eben präzis.
Die großen Kunsthistoriker sind weitsichtig ; was sie schaffen, wird durch spätere
(kurzsichtige) in einem Lebensalter überholt sein, aber ihre Hypothesen werde[n] die
stepstones (stepping stones ?), auf denen die Wissenschaft fortschreitet.“9 Kaum ein
Zweifel, dass Hans Tietze nach Erica Tietze-Conrats Meinung zu den Weitsichtigen
gehörte. Wenn es über die Jahre auch vielleicht nicht immer einfach gewesen sein
mag, die Aufgaben- und Interessengebiete gegenüber dem anderen zu behaupten, so
überwog doch die Selbstverständlichkeit der Teamarbeit.10
Die lebenslange Hinwendung zur Jugend, die im Wesentlichen informellen Ver-
netzungen (ehemalige Logiergäste, Austauschkinder, Untermieter, Studenten) bieten
verstreute Anknüpfungspunkte, zwanglose und kurzfristige Verbindungen, die man
später auch in der Emigration aufgreifen kann. Nicht selten gehen Kontakte noch
auf Hans Tietzes Dienst in der militärischen „Kunstschutzgruppe“ [sic !] oder seine
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien