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Bereiche vorhandener Ansätze (Hegels, Husserls undHeideggers, zuzüglich der
vernachlässigten„Mitgiftdes19. Jahrhunderts“8KierkegaardundNietzsche)wei-
terzuentwickelnundzueinemDenkenzuverbinden,dasnunaufgünstigsteUm-
stände trifft: Die Überlegung, dass die Existenz der Essenz vorangeht und der
ungefragt indieWeltunddamit inAngst,VerlassenheitundHoffnungslosigkeit
geworfeneMensch sich selbstwählenmuss, hat nachdemEinschnitt des Zwei-
tenWeltkriegseingänzlichanderesGewichtalsnochzehnJahrezuvor,alsGün-
ther Anders in ähnlicher Form die für Sartres atheistisches Freiheitsdenken
grundlegendeAuffassungdesMenschenals eineapriorischeEssenz entbehrend
undkontinuierlich sich selbst entwerfendvertritt. In seinemText„Pathologiede
la liberté. Essai sur la non-identification“ definiert er denMenschen als unbe-
stimmt („indéterminé“9) und, wie er später resümiert, „als ‚unfestgelegt‘, ‚inde-
fini‘ [!], ‚nicht zuEndegeschaffen‘ –kurz: als ‚freiesundundefinierbaresWesen‘;
alsWesen, das sich nur durch das, was es jeweils aus sich selbstmache, defi-
niere unddefinieren könne (undSartre hat ja sein Credo bald sehr ähnlich for-
muliert)“10. Diese Idee der menschlichen Selbstwahl verwirft Anders später in
„OnSartre“, einerausführlichenKritikvonSartresOrest-DramaLesMouches:
Once for all I wish to stress thatmy arguments against Orest are also arguments against
myself, formostof the statementswere formulatedmanyyearsbeforeSartreby theauthor
of this article inapaper 1929„DieWeltfremdheit desMenschen“, publishedexclusively in
Frenchunder thetitle„PathologiedelaLiberté“ in„RecherchesPhilosophiques“1936.11
DergenannteAufsatz indenvomHusserl-SchülerAlexandreKoyréherausgege-
benenRecherches philosophiques (1936/37) erscheint genau in jenem sechsten
28.11.1964.]Cf.S. 110:„ToutpassaparSartre,nonseulementparceque,philosophe, ilavaitun
géniede la totalisation,maisparcequ’il savait inventer lenouveau.“
8 P.A.Stephano:DerRufvondraußen. II.DerExistenzialismus inFrankreich. In:DerTurm1
(1946), Nr. 7, S. 175–176, hier S. 175. Besonders aus (pro)kommunistischer Perspektive wird
SartresVerankerung imDeutschenIdealismusstärkergewichtetalsdie imCartesianischenRa-
tionalismus. SeinHauptwerk L’Être et le Néant sei „in large parts a restatement“ vonHegels
PhänomenologiedesGeistes (und inweitererFolgevonHeideggersSeinundZeit), beanstandet
etwa Herbert Marcuse (Existentialism: Remarks on Jean-Paul Sartre’s L’Être et le Néant. In:
PhilosophicalandPhenomenologicalResearch8 [1947],Nr. 3,S. 309–336,hierS.311).
9 Günther Stern: Pathologie de la liberté. Essai sur la non-identification. Französisch von
P.-A. Stéphanopoli. In:Recherchesphilosophiques6 (1936–1937), S. 22–54,hier S. 30 (Hervor-
hebung imOriginal).
10 GüntherAnders:DieAntiquiertheit desMenschen.Über die Seele imZeitalter der zweiten
industriellenRevolution.München1961 [1956],S. 327 (Hervorhebung imOriginal).
11 GüntherAnders:OnSartre [The Illusionof Existentialism (Sartre’s „LesMouches“)] (1947).
Typoskriptmit eh.Korr.,Blatt 1. LiteraturarchivderÖsterreichischenNationalbibliothek,Wien
(LIT),Sign.: 237/W74. 3.1 Existentialismus:Entstehung,VertreterInnen,Tendenzen 21
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur