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Avantgarde.38 Ist er „der letzte französische Schriftsteller der Vorkriegszeit und
der erstederNachkriegszeit“39,wie es JeanAméry formuliert, sonicht,weil Sar-
tre in der Zwischenzeit nichts veröffentlicht, sondern weil sich in Inhalts- und
Gattungsfragen (nach 1949 wird keine Prosa mehr erscheinen) ein merklicher
Wandel vollzieht. DemVerfasser von LaNausée, eines Romansüber einenVer-
einzelten, wie Sartre später seine Vorkriegshaltung kommentiert, diesemElitis-
ten, fehlt der Realitätssinn („le sens de la réalité“40), den er erst durch die
Mobilisierung gewinnenwird; dasWeltgeschehen stattet ihnmit einemhistori-
schenundpolitischenBewusstseinaus.AufdieseÖffnungSartresvomIndividu-
alismus zum Sozialen durch die Kriegsgefangenschaft (in der es „unmöglich“
war, „mehr als einigeMinuten allein zu bleiben“41, wie seinMitkämpferManès
Sperber erinnert), folgt inden späten vierziger Jahren eine intensivierteAusein-
andersetzungmitdemMarxismusunddamiteinhergehenddieRelativierungsei-
nes extensiven Freiheitsbegriffs, angepasst nun stärker an den Menschen als
sozialesWesen(„êtresocial“42).
Zwar hat Sartre im Verlauf des Krieges „seine Vorkriegshaut abgestreift“43,
dochbevorsichdieseEntwicklungschriftlichmaterialisierenkann,stehtdieVeröf-
fentlichung des in der Gefangenschaft vorbereiteten ersten philosophischen
Hauptwerksan. IndemalsVersucheinerphänomenologischenOntologieunterti-
teltenL’Être et leNéant (1943) verarbeitet er neben seinenHusserl- auchdieHei-
degger-Lektürendieser Jahre. ImFrühjahr 1939studiert erSeinundZeit, nachdem
er schon1931, ohnees zuverstehen („sanscomprendre“),HeideggersWas istMe-
taphysik?gelesenhatte,wieeram1.Februar1940inseinKriegstagebuchnotiert:
IchhabemitHeideggerbegonnenund50Seitengelesen,aberseinschwierigesVokabular
stießmichab. […]AberdasWesentlichewar sicherlichmeinWiderwille,mirdiesebarba-
rischeund sowenig gelehrte Philosophie nachder genialenakademischenSynthese von
Husserl einzuverleiben. Es schien, als sei mit Heidegger die Philosophie wieder in die
38 Gisèle Sapiro: The Structure of the French Literary Field during the German Occupation
(1940–1944): a Multiple Correspondence Analysis. In: Poetics 30 (2002), S. 387–402, hier
S.395.
39 JeanAméry:UnmeisterlicheWanderjahre.Stuttgart 1971,S.80f.
40 Jean-Paul Sartre: „Jene suis pasdésespéré et ne reniepasmonœuvre antérieure“. [Inter-
viewmit JacquelinePiatier.] In:LeMonde,18.04.1964.
41 ManèsSperber: Bismanmir ScherbenaufdieAugen legt.All dasVergangene…München
1984 [1977],S. 178.
42 Jean-Paul Sartre: Autoportrait à soixante-dix ans. Propos recueillis parMichel Contat. In:
Jean-Paul Sartre: Situations,X. Politique et autobiographie. Paris 1976, S. 133–226,hier S. 176.
[Zuerst in:LeNouvelObservateur, 23.06., 30.06.und07.07.1975.]
43Walter van Rossum: Von der Rettungslosigkeit desMenschen. Sartres „Das Sein und das
Nichts“ inneuerÜbersetzung. In:DieZeit,07.02.1992.
26 3 GrundlagenundGründungsmythen
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur