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Die kollektive ‚Heilung‘ im Sinn, setzt Staatspräsident Charles de Gaulle dar-
auf, mithilfe der Résistance-Erfahrung ein Gefühl von gesellschaftlicher
Solidarität zu implementieren und alle Schuld einer kleinen Gruppe von
KollaborateurInnen zuzusprechen.107 Zu dieser Maßnahme tragen die Intel-
lektuellenbei, auchSartre, dernebenden tatsächlichenRésistance-Angehöri-
gen („vrais Résistants“) auch all jene, die vier Jahre lang zu jeder Tages- und
NachtzeitNein gesagt haben („tous les Français qui, à toute heure du jour et
de lanuit,pendantquatreans,ontditnon“), expost zuWiderstandskämpfern
erhebt: Zum Schweigen verurteilt und verfolgt, erhalte jede ihrer Aussagen
denWert einer Grundsatzerklärung, so Sartre in seinem im September 1944
veröffentlichten Lettres françaises-Artikel „La République du Silence“.108 In
einer alternativarmenSituationwirddieGeste zumEngagement, dieHaltung
zur Handlung, unterstreicht auch Beauvoir in ihrer frühen existenzphilo-
sophischen Schrift Pyrrhus et Cinéas (1944), wenn sie schreibt, jede Weige-
rung sei eine Wahl, jedes Schweigen habe eine Stimme („[i]mmobile ou
agissant, nouspesons toujours sur la terre; tout refus est choix, tout silencea
unevoix.Notre passivitémêmeest voulue; pournepas choisir, il faut encore
choisir de ne pas choisir; il est impossible d’échapper“109). Stets dieWahl zu
haben ist entsprechend kein existentialistischer Imperativ, sondern eine Un-
umgänglichkeit des menschliches Seins.110 Noch die ins Eck Gedrängten
haben eineWahl, wie Sartre anmehreren Fällen exemplifiziert: Die Freiheit
einesArbeitslosenbestehenichtdarin, sichvoneinemMoment zumnächsten
in einen reichen, friedlichen Bürger („bourgeois riche et paisible“111) zu ver-
wandeln, sondern darin, sein Geschick jederzeit akzeptieren oder dagegen
aufbegehren zu können. Deutlicher noch macht Sartre die Wahlfreiheit in
L’Êtreet leNéantamBeispiel eines Inhaftierten:
Wir sagenalsonicht, daßeinGefangener immer frei ist, dasGefängnis zuverlassen,was
absurd wäre, […] sondern daß er immer frei ist, auszubrechen zu versuchen (oder sich
107 Cf.Baert:TheExistentialistMoment,S.76f.
108 Cf.:„[P]uisqu’unepolice toute-puissante cherchait ànouscontraindreausilence, chaque
parole devenait précieuse comme une déclaration de principe; puisque nous étions traqués,
chacun de nos gestes avait le poids d’un engagement.“ Jean-Paul Sartre: La République du
Silence. In:Sartre: Situations, III. Lendemainsdeguerre.Paris 1976 [1949], S. 11–14;hierS. 12,
11 (Hervorhebung imOriginal). [Zuerst in:LesLettres françaises,09.09.1944.]
109 Simone de Beauvoir: Pour uneMorale de l’ambiguïté suivi de Pyrrhus et Cinéas. Paris
1947,S. 283.
110 Cf. Sartre: À Propos de l’existentialisme, S. 654: „En fait, l’homme ne peut qu’agir; ses
penséessontdesprojetsetdesengagements, sessentimentsdesentreprises […].“
111 Sartre:ÀProposde l’existentialisme,S.657.
3.2 Résistance,OpfertheseunddasÜberspringenvonLesMouches 39
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur