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FürdenTransferdesExistentialismusergebensichdurchdiePartikularität
dieser Situation abweichende Voraussetzungen etwa im Vergleich zu West-
deutschland, trotzvergleichbarerHintergründewieKriegserfahrungundNachhol-
bedarf.Die „großeBedeutung“derStrömungalsTransferobjekt liegt lautMichael
Werner in ihrer Elastizität, ihrer politisch-ideologischen Deutungsoffenheit, mit
einemSpektrum „vonantifaschistischenRésistance-Positionenüber (antikommu-
nistischen)Sozialismusund ‚Nihilismus‘zureligiöserPhilosophieundunorthodo-
xen Formen des Christentums“179. Die Besatzungsmächte in Österreich machen
sichdieseVielfältigkeit erstmitVerzögerungzunutze,nachdemsiedenansonsten
ersten Rezeptionsschritt im deutschsprachigen Raum (Düsseldorf, Berlin, Zürich)
wegender Schuld-Implikationenüberspringen:Die nationale Erstaufführung von
Die Fliegen in der Saison 1947/48 in denWiener Kammerspielen (Premiere am
7.Mai 1948, Regie: KarlWessel, Bühnenbild GustavManker) bleibt imWesentli-
chen ohne Echo. Anders als in Deutschland – nicht von denAlliierten gefördert
undbegleitetvon„einemvielstimmigenKritikerkonzertundtiefschürfendenÜber-
blicksartikeln“180–wirdhiernurvereinzeltberichtet:DasBulletindesDokumenta-
tionszentrums Centre de Documentation de Vienne, ein Presse-Verteiler der
französischenBesatzung fürNachrichtenausdemKulturbereich, kündigtdiePre-
miereohneeinWortzurReue-Thematik rechtunverfänglichan:„Sohörenwiraus
demMunde vonOrestes dieBotschaft der existentialistischenPhilosophie: inder
Natur ist der Mensch der einzige, der sein Schicksal selbst bestimmt, und zwar
durch seineeigenenHandlungen, fürdie er alleinverantwortlich ist.“181Auchdie
sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung, die als einziges etabliertes Blatt über die
WienerPremiereberichtet,gehtnichtaufdieReue-Dimensionein,sondernbeklagt
stattdessen,nacheinerkurzenEinführung indie (inAnführungszeichengesetzte)
Sartresche„Philosophie“, jene„MischungvonAnarchoindividualismusundgeisti-
gem Flagellantismus“, dass der Autor „seinen messerscharfen Geist und seine
zweifellos bedeutende dichterische Begabung“ nicht zufriedenstellend einsetzt,
wennerdenantikenDramenstoffverwandelt in
eine nackte, brutale Aufeinanderhäufung angstwinselnderMenschen, schreiendermytho-
logischerVerbrecher,heulenderErynnienundkaltblütigerGötter,ausderdieverfaulenden
geistigenEingeweidemit kundigerHandhervorgeholt unddampfendvorunsausgebreitet
werden.SinnfälligerAusdruckeinerGeneration,diesichselbstzerfleischtundaufgibt.182
179Werner:Vorwort. In: Rahner:DieRezeptiondes französischenExistentialismus imkultu-
rellenFeldWestdeutschlands,S.7.
180 Rahner: Jean-PaulSartrealsModelldes Intellektuellen,S.324.
181 o.V.:„LesMouches“ (DieFliegen)vonJean-PaulSartre. In:Kulturelles, 26.04.1948.
182 hub.: Orgie des Flagellantismus. In: Arbeiter-Zeitung, 11.05.1948. Noch 1961 imTheater
inder JosefsgassewirddasStückausdrücklich„nichtalsDramaderFreiheit,derSelbstverant-
3.2 Résistance,OpfertheseunddasÜberspringenvonLesMouches 55
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur