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Camus, verspätet und glanzvoll inDeutschlandwieder eintraf?“30 Zum „Wort-
führer“ der „existentialistische[n] Kafka-Mode“ erhebt ihn auch Hans Mayer,
der inderdeutschenNachkriegsprosa „eindrolligesAmalgamausFranzKafka
undAlbert Camus“31 erblickt. Ein solchesVerschmelzen–„[e]xistentialistische
Grenzsituationen frei nach Kafka“32– lässt sich in Österreich in dem Jahrbuch
Stimmen der Gegenwart (1951–1956) finden, das junge Literatur fördert. In der
Erzählung„DasScheffelhaus“ (1951)desSchriftstellersundPsychologenWalter
Toman reißt eine Familie, die aufgrund eines dritten Kindes einweiteres Zim-
mer in ihrerWohnung benötigt, kurzerhand eineWand zu den benachbarten
MieterInnen ein und überwältigt diese. Als weiteres Beispiel wäre Wilhelm
Meissels schon imTitel aufKafkaBezugnehmenderText„DasUrteil“ (1956) zu
nennen:Hier sieht sicheingewisserHerrVorsichtohneBewusstseinvonetwai-
gem Fehlverhalten zum Tode verurteilt, in einem Staat, dessen Einheitspartei
die„VerurteilungohneAnklage“ fürden„Idealzustand“33hält.
InsbesonderedieunheimlicheErfahrungwillkürlicherHerrschaft inKafkas
Urteilsnarrativen (mehr noch als inDas Urteil selbst inDer Process und in In
der Strafkolonie), die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zur
täglichgelebtenWirklichkeitwird,34behält imKaltenKrieg ihreAussagekraft.35
Sie hallt auch bei den ExistentialistInnen nach, in Camus’ La Peste zumBei-
30 Améry: UnmeisterlicheWanderjahre, S. 115. Collins erwähnt als verwandte Entwicklung,
dass erst das existentialistischeAufgreifenKafkas diesen zu einem „publishing phenomenon
in the anglophone world of the 1940s and 1950s“macht. Collins: The Sociology of Philo-
sophies,S.770.
31 Mayer:DieumerzogeneLiteratur,S. 73f. (Hervorhebung imOriginal).
32Weber:StimmenderGegenwart,eineAnthologie,S. 27.
33WilhelmMeissel:DasUrteil. In:StimmenderGegenwart, 1956,S. 126–144,hierS. 144.
34 Cf. die Ausführungen von Bruno Bettelheim: Individual and Mass Behavior in Extreme
Situations. In: Journal of Abnormal and Social Psychology 38 (1943), S. 417–452, hier S. 417:
„Theprisonersdidnotknowexactlywhytheywere imprisoned,andneverknewforhowlong.
This may explain why we shall speak of the prisoners as persons finding themselves in an
‚extreme‘situation.“
35 In der Sowjetunion wird Kafka hartnäckig abgelehnt, trotz Verteidigungsversuchen von
prokommunistischen Intellektuellen wie Ernst Fischer (Franz Kafka. In: Sinn und Form 14
[1962], Nr. 4, S. 497–553; sowie Fischer: Entfremdung, Dekadenz, Realismus. In: Sinn und
Form14 [1962],Nr. 5.und6,S. 816–854)undauf französischerSeiteSartre (DieAbrüstungder
Kultur. In:SinnundForm14 [1962],Nr. 5.und6,S.810–812).Unddoch,soHansMayer:„Alles
vergebens.Manerkannte sich selbstnurallzugut inFranzKafkasSpiegel.“Mayer:GelebteLi-
teratur. FrankfurterVorlesungen. Frankfurt amMain 1987, S. 92. Cf. dazuauchMichael Rohr-
wasser: „In Sibirien verstehenwir Kafkabesser“. FranzKafkaundderKalteKrieg. In:Hansel
undRohrwasser (Hg.):KalterKrieg inÖsterreich.Literatur–Kunst–Kultur. (Profile 17, 2010.)
Wien2010,S. 153–167. 6.1 Verflechtungen:KafkaundderneueKanon 153
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur