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Als es ihmnicht gelingt, die an seinemFenster sterbende titelgebende Stech-
mücke zu retten, springt er in die Tiefe. Für die andereOption, dieWiederauf-
nahme des Lebens, entscheidet sich nach einem verunsichernden Blick gen
HimmeldieHeldin inGerhardFritschsKurzgeschichte„DerAugenblickderBe-
dienerin“,mitVerweisaufdenExistentialismus:
Der Himmel ist leer, und Frau K. ist traurig. Die Papierkörbe liegen zu ihren Füßen und
außerdem ist es 7.33Uhr geworden. EineBedienerin spürt zumerstenmal in ihremLeben
daselementareUnter-den-leeren-Himmel-Gehaltensein,dasderAusgangspunkt jederwirk-
lichenmenschlichenLeistung ist undwelchesdieExistentialisten, ebensovoreiligwie auf
der anderenSeite die rosigenKatecheten, dieKonfrontationmit demNichts betiteln. Aber
es istwirklichschwer,dafüretwasanderesalsganzgroßartigeWortezufinden,auchwenn
essichnurumdenmetaphysischenAugenblickeinerBedienerinhandelt. […]Siewirdbald
ihreKörbeaufnehmen,hinauftragenunddienächstenherunterbringen.208
WiedieUniformität desAlltags inLeMythede Sisyphe eine stets bedrohte Sicher-
heit darstellt, insistiert Fritschs Erzählerinstanz darauf, Dora K. habe ‚es‘wahrge-
nommen:„Keinervonuns istsicherdavor. Jedentrifftes inseinemAugenblick.“209
Camus empfiehlt als Reaktion eineRevolte genannte Lebenshaltung, die imErtra-
gen–bewusst undwürdevoll–derAbsurdität besteht, und greift alsModell den
antiken Sisyphos-Stoff auf. Sisyphos, König von Korinth, ist dazu verdammt, im
HadeseinenschwerenSteinhügelaufzurollen,dersogleichwiederhinabrollt,wie
HomerimXI.Gesang(„DieTotenwelt“)derOdysseeberichtet:
JaauchzuSisyphussah ichhinein,der leidendsichplagte;
Schober jadocheinenriesigenBlockmitbeidenHänden.
Wahrlich,er stieß ihnhinaufbiszumGipfelundstemmtedagegen,
BrauchteFüßeundHände;dochwaressoweit,daßdieHöhe
Endlicherhatte,dadrängtedieÜberschwere ihnabwärts.
WiederdannrolltederschamloseStein indieFelderhinunter.
Eraber fingwiederansichzuplagenundstieß,daßderKörper
TrieftevorSchweiß;umdenKopfaberkreistevonStaubeineWolke.210
208 Fritsch:DerAugenblickderBedienerin,S.80.ZueinemdirektenVerweisaufdieExisten-
tialisten kommtes auch inFritschsHörspielNachtfahrt (Baden 1983, S. 31), in demeinbahn-
reisendes Ich unter Hervorhebung seiner Sartre-Kenntnisse mit einem zugestiegenen Pater
überdie„VerzweiflunganeinerWeltohneSinn“diskutiert.
209 Fritsch:DerAugenblickderBedienerin,S.82.
210 Homer:Odyssee, griechisch-deutsch; übertragen vonAntonWeiher,mit Urtext, Anhang
undRegistern, Einführung vonA.Heubeck. Berlin 142013, S. 319. ZuCamus’Quellenund sei-
nemUmgangmitdemantikenMythoscf. PaulArchambault:Camus’HellenicSources.Chapel
Hill/NC1972; sowieHelmutHühn:RevoltegegendasAbsurde:SisyphosnachCamus. In:Vöh-
ler und Seidensticker, in Zusammenarbeit mit Emmerich (Hg.): Mythenkorrekturen. Zu einer
6.3 LiteraturunterdemGalgen:Grenzsituationen 185
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur