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oder zudenmodernenFranzosen vomSchlag eines Gide, eines Bernanos, einesMauriac,
einesSartre,einesCamus.278
Anders als bei den ‚modernen Franzosen‘ degradiere der politische Charakter
der österreichischen Literatur die Kunst nicht „zu einemMittel der politischen
Agitation“, sondern äußere sich „in der Einbettung des individuellen Schick-
sals in das geschichtliche“279, erklärt Eisenreich, was keinenWiderspruch zu
den existentialistischen SchriftstellerInnen darstellt, die Figuren ebenfalls als
in die Geschichte integriert („réintégrés dans l’histoire“280) präsentieren und,
nachdem sie selbst durch Krieg und Okkupation das Absolute im Schoße der
Relativität erfahrenhaben, dasmetaphysischeAbsoluteunddieRelativität der
geschichtlichenTatsache („l’absolumétaphysiqueet la relativitédu faithistori-
que“281) in ihren Texten vereinen. Für Sartre fungiert Literatur als kritischer
Spiegel, der zeigt, beweist und darstellt, woraus die RezipientInnen anschlie-
ßendmachenwürden,was siewünschen („[m]ontrer, démontrer, représenter.
C’est cela l’engagement. Après ça, les gens se regardent et font ce qu’ils veu-
lent“282). Trotz dieser sehr weiten Definition scheint die von der Kritik vorge-
nommene Verkürzung des Existentialismus auf sein aktivistisches Moment –
zuletzt gar auf „denWillen eine individualistische, liberalistische, kapitalisti-
scheGesellschaftsformineineuniversalistische, sozialistische, totalitäreumzu-
ändern“283, wie Peter Handke kundtunwird –Anfang der fünfziger Jahrewie
bestätigt durchSartres eigenepolitische Interventionen (cf. Kap. 8.2). DerAuf-
fassung von littérature engagée als Indienstnahme der Literatur zu literatur-
fremden Zwecken fehlt es insoweit an Differenzierung zwischen politischem
und parteipolitischem Schreiben, als Sartre die Auffassung vertritt, jedes
Schreiben sei politisch („que tout écrit est politique“), da jede literarischeÄu-
ßerung von einem Standpunkt aus geschehe. Es gebe kein rein literarisches
Schreiben („écrits purement littéraires“284), vielmehr sei Literatur wesensge-
278 HerbertEisenreich:LiteraturundPolitik? (1959). In:Reaktionen,S. 105–114,hierS. 105.Cf.
zudiesemThemenkomplexauchWalterThaler:DerHeimat treueHasser.SchriftstellerundPoli-
tik inÖsterreich.EinpolitischesLesebuch,Vorwort:KarlMüller,AntonPelinka.Wien2013.
279 Eisenreich:LiteraturundPolitik?,S. 106.
280 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 215.
281 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 223.
282 Jean-Paul Sartre: Les Écrivains en personne. [InterviewmitMadeleine Chapsal.] In: Sar-
tre: Situations, IX.Mélanges.Paris 1972, S. 9–39,hier S. 31. [Zuerst in:MadeleineChapsal: Les
Écrivainsenpersonne, 1960.]
283 Peter Handke: Die Literatur ist romantisch (1967). In: Handke: Meine Ortstafeln. Meine
Zeittafeln. 1967–2007.FrankfurtamMain2007,S. 53–63,hierS.53.
284 Sartre: Sartre, S. 82, 81. Mit dieser Meinung steht Sartre nicht allein. Ein engagierter
Autor, soGünterGrass’bekanntesDiktum, ist „wie einweisser Schimmel“. Cf.Wolf Scheller:
6.4 LittératureengagéezwischenSprachskepsisundEngagement 201
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur