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ausQu’est-ceque la littérature?bekannterGedanke,derauchbei ihmindieEr-
wartung mündet, die Literatur solle „enthüllen“313. Die LeserInnen haben für
Sartrewesentlich daranAnteil: Das zuEnthüllende offenbare sich ihnennicht
als etwas Evidentes, sondern als verworrenes und widersprüchliches Gewebe
(„tissu embrouillé et contradictoire“314), sie sollten Szenen voll von Zweifeln,
Erwartungen,Unfertigemausgeliefertwerden,denengegenübersie sich inwei-
tererFolgenichtmehrunbeteiligtgebenkönnten.DieAbsichtsei,
daß jedeFigur eineFalle ist, daßderLeserdaringefangenundvoneinemBewußtsein in
einandresgeworfenwird […],daßernochdieUngewißheitderHelden, ihreUnruhe teilt,
von ihrer Gegenwart überwältigt, unter demGewicht ihrer Zukunft niedergebeugt, von
denWahrnehmungenundvon ihrenGefühlen eingeschlossenwie vonunübersteigbaren
hohenFelswänden315.
([…] quechaquepersonnagesoitunpiège,que le lecteurysoitattrapé […] qu’il soit incer-
tain de l’incertitudemême des héros, inquiet de leur inquiétude, débordé par leur pré-
sent, pliant sous le poids de leur avenir, investi par leurs perceptions et par leurs
sentimentscommepardehautes falaises insurmontables)316.
DerRezeptionsseitemisst der ExistentialismushöchsteBedeutungbei:Werke
hättennurWert indemMaß, indemandere sie aufnähmen („n’ont de valeur
quedans lamesureoù lesautres les reprennent“317), dieLeserInnenkonstitu-
ieren sie dabei ebenso wie die VerfasserInnen. Dieser Schritt lässt sich laut
Ingeborg Bachmann, deren eigenes engagiertes Schreiben sich einer klaren
Oppositionsbildung von autonomer und politischer Literatur entgegen-
stellt,318 nur schwerlich steuern: Zwar legt sie als erste Poetik-Gastdozentin
derUniversität Frankfurt in ihrerVorlesung (1959/1960) dieWeltveränderung
als Aufgabe der Dichtung nahe, doch ein Anspruch, „zumindest dieWelt zu
313 ChristophRansmayr: Hiergeblieben. Sehr geehrte DamenundHerren! In: Ransmayr: Die
VerbeugungdesRiesen,S.84–89,hierS.86 (Hervorhebung imOriginal).
314 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 224.
315 Sartre:Was istLiteratur?,S. 174.
316 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 226.
317 Sartre: Sartre, S. 61. InderBundesrepublikDeutschlandwirddieseAufwertungder Lese-
rInnen-Rolle durch SartresWas ist Literatur?besonders imUmfeld der Konstanzer Schule re-
gistriert, wobei sich in der Rezeptionsästhetik „das gesellschaftskritische Element nur in
verdünnter Form als gesellschaftsbildende Kraft der Literatur“ erhält. Cf. Peter Uwe Hohen-
dahl: Einleitung. In: Hohendahl (Hg.): Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik. Dokumente
zur empirischen undmarxistischen Rezeptionsforschung. Frankfurt amMain 1974, S. 9–48,
hierS.44.
318 Cf. dazu Christine Lubkoll, Manuel Illi und AnnaHampel: Politische Literatur. Begriffe,
Debatten, Aktualität. Einleitung. In: Lubkoll, Illi und Hampel (Hg.): Politische Literatur. Be-
griffe,Debatten,Aktualität.Stuttgart 2018,S. 1–10,hierS.6.
6.4 LittératureengagéezwischenSprachskepsisundEngagement 207
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur