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DiehieralsaustriakischesSpezifikumbeanstandetena-nationalen Intellektuel-
lengehörendemseinerzeit verschwindendenTypusderklassischen Intellektu-
ellenalsHüterInnenvon Idealen („gardiendesvaleurs idéales“4) an,umderen
Bestand sich Julien Benda schon 1927 in seinem einflussreichen La Trahison
des clercs sorgt. Indem1946neuaufgelegten, vonSartre inQu’est-ceque la lit-
térature?mehrfach angegriffenen Buch äußert Benda seinen Unmut darüber,
wie diemoderne Intelligenz gelenkt von politischen Interessen arbeitet („sous
la conduite d’un intérêt politique“5), statt sich überzeitlichen Idealen zu ver-
pflichten.FürdieneuenIntellektuellen–derenGestalt sich imZugederPariser
Mai-Unruhen 1968 vervollkommnen wird – reicht es nicht mehr, innerhalb
eines „geistigen Referenzsystems“ zu leben, über einen humanistischenAsso-
ziationsraumzuverfügenundsich in „abstraktenGedankengängen“6 zuüben,
sie sollten sich laut Sartre vielmehr direkt in denDienst derMassen („directe-
mentauservicedesmasses“7) stellen.DieKluftzwischenVolkundIntellektuel-
len ist nun inÖsterreichbesonders tief, bedauert imNationalrat Ernst Fischer,
seines Zeichens „intellektuelles Aushängeschild der KPÖ“8: In „breitenVolks-
schichten“herrschte„tiefesMißtrauengegenden Intellektuellen“9.Überhaupt,
4 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S.82.
5 JulienBenda: LaTrahisondes clercs. Introductiond’AndréLwoff, avant-proposd’Étiemble,
notesetpostfacedePierreChambat.Paris 1927,S. 293.
6 Améry: JenseitsvonSchuldundSühne,S. 10.
7 Jean-Paul Sartre: Jean-Paul Sartre (Interview vom07.02.1973). In: Jacques Chancel: Radio-
scopie III. Préface deMarcel Jullian. Paris 1973, S. 229. Auchwenn die neuen Intellektuellen
für das Ideal der philosophischenArbeiterInnen ihr Studiumzugunsten der Fabrikarbeit ver-
werfen, können sie, so scheint es bald, sich nicht ganz aus ihrembürgerlichenMilieu lösen.
DenKonfliktmachtSartrebis zueinemgewissenGradansich selbst aus:Er fühle sichsolida-
risch mit den ArbeiterInnen, die die Bourgeoisie stürzen wollen, schreibe aber unterdessen
seinWerküberFlaubert füreinbürgerlichesLesepublikum.SoempfindetSartredie Intellektu-
ellen als per definitionemVerräter, die noch am ehesten authentisch sein können,wenn sie
ihrenVerraterkennenundwählen.Cf. in Jean-PaulSartresSituations,VIII.Autourde68 (Paris
1972) das am 26.06.1968 in Le Nouvel Observateur erschienene Interviewmit Serge Lafaurie,
„L’Idéeneuvedemai 1968“ (S. 193–207), sowieebendortdie imHerbst 1965 in Japanvorgetra-
genenTexte in„Plaidoyerpour les intellectuels“ (S.375–455).
8 Kroll:Kommunistische Intellektuelle inWesteuropa,S.308.
9 Ernst Fischer: FürFreiheit undVernunft! In: Fischer:Das JahrderBefreiung, S. 85–89,hier
S.86f. [Zuerst in:NeuesÖsterreich, 23.05.1945.] ScharangergänztnichtohneSarkasmus:„Un-
mittelbar nach demKrieg hat Österreich aus der Nazizeit, in der auch viele Intellektuelle er-
mordet und vertrieben wurden, auf seine Weise eine Lehre gezogen: Damit nicht wieder
passieren konnte, was passiert ist, ließman einfach keine Intellektuellenmehr zu.“Michael
Scharang: VomWurstel zumWürstel. Die Entwicklung eines österreichischen Intellektuellen
(1990). In: Scharang: Bleibt Peymann in Wien oder kommt der Kommunismus wieder. Ge-
schichten,Satiren,Abhandlungen.Hamburg1993,S.39–42,hierS.39.
232 7 DiePhilosophiedesExistentialismus inForschung,LehreundKritik
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur