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Entscheidend für diesen Eindruck sind Sartres in einer „spitzen, anstössigen
Sprache“ geschriebenen Vorkriegswerke, die „das Schöne und Edle“weiträu-
migumgehen,umsichdirekt„indenAbgrundeinervonniedrigenTriebenund
bösenLeidenschaftenbehaftetenMenschheit“135 zubegeben.Geradedurchdie
verzögerteRezeptionvonLeMurundLaNauséewirdderAutor lange für einen
Verfechter des absoluten Individualismus („le partisan de l’individualisme ab-
solu“136) gehalten, der desMenschenStimmungsspektrumaufNiedergeschlagen-
heit und Lustlosigkeit („la tristesse et l’ennui“137) beschränkt. Dem Grazer
Philosophie-Professor Silva-Tarouca erscheint der Existentialist als ein „Mensch-
pessimist“,dersichimUnwohlseinallzuwohlfühlt:
Es ist das Eigentümliche der Angst, Angst zu haben auch vor der Befreiung von sich
selbst, vomeigenenLeid.MitwelchemRaffinement kämpfenSchizophreneundmanisch
Depressiveumihrpseudopositivesoderoffennegatives ‚Mono‘, umihrUnglück,umihre
Krankheit,umihren ‚Existentialismus‘.138
NachdemersicheinenÜberblicküber„dienegativenErlebnisse:dieAngst,die
mauvaise foi, […] schließlichSadismusundMasochismus“verschaffthat,muss
auchderErziehungswissenschaftlerLeopoldProhaskademExistentialismus„Ni-
hilismusundPessimismus“attestieren;dochwährender1955„einepositiveWei-
terentwicklung bei Sartre“139 noch nicht ausschließen möchte, sieht Johann
Fischl schon imVorjahr schwarz: „DiePhilosophie Sartres ist einHohngelächter
aufalles,wasbisherdemMenschenheiligwar: siegründet imNihilismus.“140Ni-
hilismuswird,wennnicht als Synonymoder SteigerungsformvonPessimismus,
als ZuwiderhandlunggegendenAnstandunddasVerwerfengängigerMoralvor-
stellungenbegriffen,wenigeralsReaktionauf„thelossofmeaningthataccompanies
the disappearance of ametaphysical Christianworldview“141 imNietzscheanischen
Sinne.Entsprechendbemüht sichArmand Jacob,der immerwiederkehrenden
ZuordnungdieBerechtigungzunehmen:
Obwohl diese Zeit als die des Nihilismus gilt, ist es äusserst zweifelhaft, ob sie je einen
wirklichen Nihilisten hervorgebracht hat: unter allen Schriftstellern, von Nietzsche bis
Malraux, Sartre, Camus und den Surrealisten, die häufig als Nihilisten bezeichnet wer-
135 o.V.: Jean-PaulSartreun [!]derExistentialismus. In:Kulturelles, 17.06.1947.
136 Chancel: Jean-PaulSartre,S. 225f.
137 Jean-Paul Sartre. In: Roland Alix: Enquête auprès des étudiants d’aujourd’hui. In: Les
Nouvelles littérairesartistiqueset scientifiques,02.02.1929.
138 AmadeoSilva-Tarouca:DieLogikderAngst. Innsbruck,Wien,München1953,S. 164,219.
139 Prohaska:ExistentialismusundPädagogik,S. 50f., 112.
140 Fischl: Idealismus,RealismusundExistentialismusderGegenwart,S. 315.
141 Christine Daigle: Sartre and Nietzsche: Brothers in Arms. In: O’Donohoe und Elveton
(Hg.):Sartre’sSecondCentury,S. 56–72,hierS.56.
7.3 KatholischeKritikoder:DerExistentialismusalsNihilismus 257
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur