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GENESE EINER HABSBURG-LOTHRINGISCHEN FAMILIENSAMMLUNG 841
sen bei ihrer öffentlichen Präsentation – etwa bei Ausstellungen – wahrge-
nommen wurden. Diese Funktion übten die kunsthandwerklich gestalteten
Alben (die sog. „Enveloppes“) und Kassetten aus, die den eigentlichen Ad-
ressen als Hülle dienten. Sie definierten bei unreflektierter Wahrnehmung
wohl auch, was eine Huldigungsadresse ausmachte – gewissermaßen meto-
nymisch –, und vor allem: sie zogen das Interesse der Öffentlichkeit in erster
Linie auf sich. Dass Hüllen von Adressen zu Formgelegenheiten für kunst-
handwerkliche Betätigung werden konnten, ist angesichts der rituellen Be-
deutung ihrer Inhalte nichts Ungewöhnliches. Doch das Ausmaß, in dem
diese Praxis betrieben und schließlich auch vermarktet wurde, verlangt eine
Erklärung durch tiefer liegende Ursachen, die meines Erachtens in gewissen
sozioökonomischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts zu suchen sind. Um
diese Rahmenbedingungen zu rekonstruieren, muss man ein wenig ausholen
und die Rolle der Kunstindustrie1506 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts in den Blick nehmen.
Der Stellenwert und die Förderung, die dem Kunstgewerbe in dieser Zeit
zuteil wurden, waren Folgeerscheinungen von sehr komplexen Entwicklun-
gen, die hier nur angedeutet werden können.1507 Die Suche nach zeitgemäßen
Stilformen, die in den Stilpluralismus des Historismus mündete, technische
Neuerungen, die sowohl gravierende Veränderungen in der Organisation der
Produktionsprozesse als auch neue Möglichkeiten der Gestaltung zur Folge
hatten, und die Ansprüche der „Nationen“ an ihre Produktion sowie die da-
mit einhergehende, nicht zuletzt auch volkswirtschaftliche Konkurrenz unter
ihnen sind nur einige Aspekte dieses vielschichtigen Phänomens. Von unmit-
telbarer Wirkung war zweifellos auch der Umstand, dass die mit der indus-
triellen Produktion einhergehende Massenproduktion zu Qualitätsverlusten
führte, die sowohl die Gediegenheit bei der Erzeugung als auch die Origina-
lität der Entwürfe betrafen.1508 All diese Entwicklungen, mit denen wir uns
hier nicht mit der wünschenswerten Ausführlichkeit beschäftigen können,
hatten jedenfalls verschiedene Reaktionen und Diskurse nach sich gezogen.
Der Grundtenor, durch den man die Veränderungen in der Kunstindus
trie
rezipierte, bestand darin, dass es sich primär um die Folge einer Verwirrung
des Geschmacks handelte, um ein Dekadenzphänomen gewisser maßen.1509
Diskutiert wurden deshalb vor allem Möglichkeiten und Maß nahmen
1506 Damals häufig gebrauchter Ausdruck für Kunstgewerbe bzw. Kunsthandwerk oder ange-
wandte Kunst.
1507 Siehe dazu beispielsweise: Falke, Geschmack, 369–387; Pevsner, Wegbereiter, 32–44; Ot-
tillinger/Hanzl, Interieurs, 321–363; Ottillinger, Kunstgewerbe; Scholda, Niello, 84.
1508 Pevsner, Wegbereiter, 33–36; Scholda, Niello, 84.
1509 Falke, Geschmack, 369–381.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die Familien-Fideikommissbibliothek des Hauses Habsburg-Lothringen 1835–1918
Metamorphosen einer Sammlung
- Title
- Die Familien-Fideikommissbibliothek des Hauses Habsburg-Lothringen 1835–1918
- Subtitle
- Metamorphosen einer Sammlung
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21308-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 1073
- Categories
- Geschichte Chroniken