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Aus unseren Parallelen zur Traumsymbolik können Sie aber auch Schätzung für den Charakter
der Psychoanalyse gewinnen, der sie befähigt, Gegenstand des allgemeinen Interesses zu werden,
wie weder die Psychologie noch die Psychiatrie es konnten. Es spinnen sich bei der
psychoanalytischen Arbeit Beziehungen zu so vielen anderen Geisteswissenschaften an, deren
Untersuchung die wertvollsten Aufschlüsse verspricht, zur Mythologie wie zur
Sprachwissenschaft, zum Folklore, zur Völkerpsychologie und zur Religionslehre. Sie werden es
verständlich finden, daß auf psychoanalytischem Boden eine Zeitschrift erwachsen ist, welche
sich die Pflege dieser Beziehungen zur ausschließlichen Aufgabe gemacht hat, die 1912
gegründete, von Hanns Sachs und Otto Rank geleitete Imago. In all diesen Beziehungen ist die
Psychoanalyse zunächst der gebende, weniger der empfangende Teil. Sie hat zwar den Vorteil
davon, daß uns ihre fremdartigen Ergebnisse durch das Wiederfinden auf anderen Gebieten
vertrauter werden, aber im ganzen ist es die Psychoanalyse, welche die technischen Methoden
und die Gesichtspunkte beistellt, deren Anwendung sich auf jenen anderen Gebieten fruchtbar
erweisen soll. Das seelische Leben des menschlichen Einzelwesens ergibt uns bei
psychoanalytischer Untersuchung die Aufklärungen, mit denen wir manches Rätsel im Leben der
Menschenmassen lösen oder doch ins rechte Licht rücken können.
Übrigens habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt, unter welchen Umständen wir die tiefste Einsicht
in jene supponierte »Grundsprache« nehmen können, auf welchem Gebiet am meisten von ihr
erhalten ist. Solange Sie dies nicht wissen, können Sie auch die ganze Bedeutung des
Gegenstandes nicht würdigen. Dies Gebiet ist nämlich die Neurotik, sein Material die Symptome
und andere Äußerungen der Nervösen, zu deren Aufklärung und Behandlung ja die
Psychoanalyse geschaffen worden ist.
Mein vierter Gesichtspunkt kehrt nun wieder zu unserem Ausgang zurück und lenkt in die uns
vorgezeichnete Bahn ein. Wir sagten, auch wenn es keine Traumzensur gäbe, würde der Traum
uns doch noch nicht leicht verständlich sein, denn dann fänden wir uns vor der Aufgabe, die
Symbolsprache des Traumes in die unseres wachen Denkens zu übersetzen. Die Symbolik ist also
ein zweites und unabhängiges Moment der Traumentstellung neben der Traumzensur. Es liegt
aber nahe anzunehmen, daß es der Traumzensur bequem ist, sich der Symbolik zu bedienen, da
diese zu demselben Ende, zur Fremdartigkeit und Unverständlichkeit des Traumes, führt.
Ob wir bei weiterem Studium des Traumes nicht auf ein neues Moment, welches zur
Traumentstellung beiträgt, stoßen werden, muß sich ja alsbald zeigen. Das Thema der
Traumsymbolik möchte ich aber nicht verlassen, ohne nochmals das Rätsel zu berühren, daß sie
auf so heftigen Widerstand bei den Gebildeten stoßen konnte, wo die Verbreitung der Symbolik
in Mythus, Religion, Kunst und Sprache so unzweifelhaft ist. Ob nicht wiederum die Beziehung
zur Sexualität die Schuld daran trägt?
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin