Page - 124 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Förderungen späterer Entwicklungen, sie geben uns Aufschlüsse über das kindliche Sexualleben
und somit über das menschliche Sexualleben überhaupt. Wenn wir also hinter unseren entstellten
Träumen alle diese perversen Wunschregungen wiederfinden, so bedeutet es nur, daß der Traum
auch auf diesem Gebiet den Rückschritt zum infantilen Zustand vollzogen hat.
Eine besondere Hervorhebung unter diesen verbotenen Wünschen verdienen noch die
inzestuösen, d. h. die auf Geschlechtsverkehr mit Eltern und Geschwistern gerichteten. Sie
wissen, welcher Abscheu in der menschlichen Gemeinschaft gegen solchen Verkehr verspürt
oder wenigstens vorgegeben wird und welcher Nachdruck auf den dagegen gerichteten Verboten
ruht. Es sind die ungeheuerlichsten Anstrengungen gemacht worden, diese Inzestscheu zu
erklären. Die einen haben angenommen, daß es Züchtungsrücksichten der Natur sind, welche sich
psychisch durch dieses Verbot repräsentieren lassen, weil Inzucht die Rassencharaktere
verschlechtern würde, die anderen haben behauptet, daß durch das Zusammenleben von früher
Kindheit an die sexuelle Begierde von den in Betracht kommenden Personen abgelenkt wird. In
beiden Fällen wäre übrigens die Inzestvermeidung automatisch gesichert, und man verstünde
nicht, wozu es der strengen Verbote bedürfte, die eher auf das Vorhandensein eines starken
Begehrens deuten. Die psychoanalytischen Untersuchungen haben unzweideutig ergeben, daß die
inzestuöse Liebeswahl vielmehr die erste und die regelmäßige ist und daß erst später ein
Widerstand gegen sie einsetzt, dessen Herleitung aus der individuellen Psychologie wohl
abzulehnen ist.
Stellen wir zusammen, was uns die Vertiefung in die Kinderpsychologie für das Verständnis des
Traumes gebracht hat. Wir fanden nicht nur, daß das Material der vergessenen Kindererlebnisse
dem Traum zugänglich ist, sondern wir sahen auch, daß das Seelenleben der Kinder mit all seinen
Eigenheiten, seinem Egoismus, seiner inzestuösen Liebeswahl usw. für den Traum, also im
Unbewußten, noch fortbesteht und daß uns der Traum allnächtlich auf diese infantile Stufe
zurückführt. Es wird uns so bekräftigt, daß das Unbewußte des Seelenlebens das Infantile ist. Der
befremdende Eindruck, daß soviel Böses im Menschen steckt, beginnt nachzulassen. Dieses
entsetzlich Böse ist einfach das Anfängliche, Primitive, Infantile des Seelenlebens, das wir beim
Kinde in Wirksamkeit finden können, das wir aber bei ihm zum Teil wegen seiner kleinen
Dimensionen übersehen, zum Teil nicht schwernehmen, weil wir vom Kinde keine ethische Höhe
fordern: Indem der Traum auf diese Stufe regrediert, erweckt er den Anschein, als habe er das
Böse in uns zum Vorschein gebracht. Es ist aber nur ein täuschender Schein, von dem wir uns
haben schrecken lassen. Wir sind nicht so böse, wie wir nach der Deutung der Träume annehmen
wollten.
Wenn die bösen Regungen der Träume nur Infantilismen sind, eine Rückkehr zu den Anfängen
unserer ethischen Entwicklung, indem der Traum uns einfach wieder zu Kindern im Denken und
Fühlen macht, so brauchen wir uns vernünftigerweise dieser bösen Träume nicht zu schämen.
Allein das Vernünftige ist nur ein Anteil des Seelenlebens, es geht außerdem in der Seele noch
mancherlei vor, was nicht vernünftig ist, und so geschieht es, daß wir uns unvernünftigerweise
doch solcher Träume schämen. Wir unterwerfen sie der Traumzensur, schämen und ärgern uns,
wenn es einem dieser Wünsche ausnahmsweise gelungen ist, in so unentstellter Form zum
Bewußtsein zu dringen, daß wir ihn erkennen müssen, ja wir schämen uns gelegentlich der
entstellten Träume genau so, als ob wir sie verstehen würden. Denken Sie nur an das entrüstete
Urteil jener braven alten Dame über ihren nicht gedeuteten Traum von den »Liebesdiensten«.
Das Problem ist also noch nicht erledigt, und es bleibt möglich, daß wir bei weiterer
Beschäftigung mit dem Bösen im Traum zu einem anderen Urteil und zu einer anderen
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin