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leBende Brücken
Solange das pflanzliche Material lebt, verrottet es
nicht. Brücken aus diesem lebenden Material sind also
langlebig und nachhaltig. Sie können mehrere Jahr-
hunderte bestehen und der Witterung widerstehen. Die
örtliche Würgefeigenart ist eine höchst widerstands-
fähige Pflanze, die in dem warmen Klima sehr gut ge-
deiht. Sie ist semiepiphytisch und braucht nicht immer
einen Wirtsbaum oder ein Bauwerk. Sie kann auch di-
rekt vom Boden wie ein Baum erstaunliche Höhen er-
reichen. Meist aber keimt ein im Kot eines Tieres, meist
eines Vogels, eingebetteter Samen in einer Astgabel
eines hohen Baumes oder in einer erhöht gelegenen
Vertiefung oder Ritze eines aufragenden Mauerwerks.
Dort ist die Würgefeige im Wald dem Licht näher und
wächst gleich in zwei Richtungen, einerseits nach oben
weiter zum Licht und zugleich mit ihren Luftwurzeln nach
unten, um im Boden wurzeln zu können und so auch von
dort Nahrung zu beziehen.
Manche der aus den Luftwurzeln dieser Würgefeigen
bestehenden lebenden Brücken erreichen erstaunliche
Spannweiten. Eine von den 74 bislang untersuchten
übersteigt sogar die Länge von 50 m. Wenn dann die
Bäche in den Tälern dieser Region in der Regenzeit zu
wilden reißenden Gewässern anschwellen, sind die aus
lebendem Baumaterial bestehenden und vielfach ver-
netzten Brücken oft die einzige Möglichkeit, diese ech-
ten Wassergrenzen sicher zu überqueren.
Bei der lebenden Brücke beim Dorf Nongriat sind
gleich zwei Brücken übereinander “gebaut“ worden.
Die untere kürzere Brücke ist die ältere, die obere län-
gere ist die jüngere, die auch wesentlich mehr Zeit für
ihre Herstellung brauchte. So hat das Dorf eine Brücke
auf der gewünschten Höhe und quasi eine Notbrücke
für den Fall, dass bei der zweiten ein Problem entsteht.
Von weiter oben führt auch eine lange einläufige Frei-
treppe an den Zutritten der zwei Brücken vorbei bis zum
Flussbett hinab, wo gestaffelt niedrige Wasserbarrieren
errichtet wurden, hinter denen in der Trockenzeit etwas
Wasser zurückgehalten wird. Auch auf der Gegenseite
führt eine Treppe von oben hinab, hier allerdings nur bis
zur unteren lebenden Brücke
Beide Brücken beziehen ihre “Bausubstanz“ von nur
einer Würgefeige. Die untere Brücke hängt erstaun-
lich wenig durch und kommt fast ohne “Zuganker“ von
oben aus. Diese beschränken sich wohl auf die zwei Randzonen. Die obere Brücke hingegen verfügt über
mehrere schräg verlaufende “Zuganker“.
Folgende Seite:
Abb.: 71
Die zwei lebenden Brücken beim Dorf Nong-
riat queren das Tal übereinander, wobei die
untere die kürzere und ältere ist. Ganz vorne er-
kennt man eine Barriere durch das Flussbett, die
zur Zeit der Aufnahme nur wenig Wasser auf-
halten konnte. Ganz im Hintergrund sieht man
eine zweite niedrige Wassersperre. Links sieht
man eine lange Treppenanlage, die bis zum Fluss-
bett hinabreicht. Die Becken unten dienten wohl
der Wasserbeschaffung während der Trocken-
zeit. Die Brücken sind vielleicht 200 Jahre alt.
Foto: Wilfrid Middleton, München, 2019
Frühe Brücken
Zug- oder druckbeanspruchte Konstruktionen, kreative, innovative und interessante Brücken
- Title
- Frühe Brücken
- Subtitle
- Zug- oder druckbeanspruchte Konstruktionen, kreative, innovative und interessante Brücken
- Author
- Hasso Hohmann
- Publisher
- Technische Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-833-2
- Size
- 20.0 x 27.0 cm
- Pages
- 306
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen