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Studieren und Lehren — in Wien und Lüneburg
Während meines Studiums der Internationalen Entwicklung in Wien lernte
ich, auf verschiedene Weisen, bestehende Ungleichheitsverhältnisse wissen-
schaftlich reflektiert zu hinterfragen. Das Infragestellen, das Nachhaken, das
Lästig-Sein(-Dürfen), das Diskutieren und Reflektieren, die Grenzarbeit, die
Reibungsflächen, der Perspektivenwechsel, die Differenzen, das Dialogische,
das Schonungslose sind Qualitäten und Prozesse, die ich dabei erfahren habe
und in meinem Alltag nicht mehr missen möchte. Hatte man die Ungleich-
heitsverhältnisse in diversen entwicklungspolitischen Feldern einmal erörtert,
erschien es unmöglich, allein anhand von klassisch-empirischen Methoden
darin zu forschen bzw. aktiv zu handeln — man würde lediglich zur Repro-
duktion ungleicher Bedingungen beitragen. Das ErgrĂĽnden alternativer
Forschungswege wurde zu einer zentralen Herausforderung, wenn man sich
nicht einer lähmend-kulturpessimistischen Haltung hingeben wollte.
Neben Martin Jäggle machten vor allem auch Gerald Faschingeder und
Sarah Funk das Studium der Internationalen Entwicklung fĂĽr mich zu einem
Ort, an dem ein freirianisches Bildungsverständnis zur Entfaltung gebracht
werden konnte. Erst studierten Sarah und ich bei Gerald, später konzipierten
und leiteten wir gemeinsam mit ihm Lehrveranstaltungen. Gemeinsam hiel-
ten wir EinfĂĽhrungskurse in entwicklungspolitische Theorien. Hierbei stellte
sich uns die Herausforderung, interaktive Lehre in Gruppen bis zu 80 Leuten
zu gestalten. Das Studienfach Internationale Entwicklung war damals noch
völlig überrannt. 700 Studienanfänger_innen pro Jahr wollten mehr über glo-
bale Ungleichheitsverhältnisse erfahren und diese studieren. Dem Institut
der Internationalen Entwicklung stand jedoch zu wenig Geld zur VerfĂĽgung,
um mit diesem Andrang angemessen umzugehen. Also waren unsere Arbeits-
gruppen viel größer als jene an anderen Instituten. Für uns bestand der
SchlĂĽssel guter Lehre darin, ein gutes MaĂź zwischen inhaltlichen Inputs und
interaktiven Methoden zu finden, um zum einen vom Wissen der Studieren-
den — ihrem Generativen — auszugehen und andererseits etabliertes Wissen
aus dem Kanon der entwicklungspolitischen Theorien zu vermitteln. Die
Fotografie konnte ich in der Folge in Lehrveranstaltungen zum Thema Inter-
kulturelle Kommunikation zur Anwendung bringen. Ich legte diese Lehr-
veranstaltungen im Sinne der ipsum-Projekte und des Forschenden Lernens
an (Bundes assistentenkonferenz 2009) und kombinierte die LektĂĽre und Dis-
kussion fototheoretischer Texte mit fotografischer Praxis. Diese Kombination
sollte es den Studierenden erlauben, die eigene Wahrnehmung im Feld der
Interkulturellen Kommunikation zu schärfen und ihre Reflexionen über das
eigene Tun theoretisch zu stĂĽtzen. Der Einfluss von Bilderwelten auf die
eigene Weltwahrnehmung und deren kulturbezogene Interpretation konnte
dadurch erfahrbar und diskutierbar werden. Das individuelle Diplomstudium
Internationale Entwicklung gibt es inzwischen nicht mehr in dieser Form.
Es wurde im Rahmen des Bologna-Prozesses und durch die prekären Rahmen-
bedingungen in der österreichischen Hochschulfinanzierung aufgelöst.
Inzwischen ist es als „Masterlehrgang Internationale Entwicklung“ mit über-
schaubaren Studierendenzahlen und entsprechenden Beschränkungen an
der Universität Wien eingerichtet.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien