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Geflecht einnehme. Bourdieu und Barthes vermitteln mir, als undisziplinierte
Wissenschaftler, in ihrer so unterschiedlichen Auseinandersetzung mit der
Fotografie den Mut, einen ähnlich gearteten Blickwechsel einzugehen, etab-
lierte Forschungsfelder und Wissensgrenzen auszudehnen, aus bestehenden
Kategorien immer wieder hinauszutreten. Die Fotografie bietet die notwen-
digen Ambivalenzen fĂĽr ein solches Vorhaben.
Die Suche nach einer gemeinsamen Sprache der Kritik und des
Ausdrucks fĂĽhrt mich zu Homi Bhabha. Ihm folgend geht es mir darum, die
Sprache der Kritik mithilfe verschiedener Ausdrucksformen zu gestalten.
Gegensätze werden dabei nicht in vermeintlicher Harmonie aufgelöst — sie
werden ĂĽbersetzt. Erst durch die Anerkennung und Ăśbersetzung von Gegen-
sätzen kann Neues hervorgebracht werden.
“The language of critique is effective not because it keeps forever
separate the terms of the master and the slave, the mercantilist
and the Marxist, but to the extent to which it overcomes the given
grounds of opposition and opens up a space of translation.”
(Bhabha 2004: 37)
Homi Bhabha gibt mir in seinem Sammelwerk “The Location of Culture”
Begriffe, Konzepte und Metaphern zur Hand, mit denen ich meine eigene
Sozialisierung ein StĂĽck weit erfassen kann. Ich ziehe seine Begriffe und Kon-
zepte wie Fäden aus den einzelnen Aufsätzen heraus und verwende sie im
Sinne der Foucault’schen Werkzeugkiste (Foucault 1976: 53). Homi Bhabha ist
weder operator, noch nutzt er die Fotografie als Forschungsmethode; er
forscht auch nicht explizit ĂĽber sie. Wohl aber ist er spectator, da er die litera-
rischen und kĂĽnstlerischen Werke verschiedener Autor_innen betrachtet,
beschreibt und in größere Sinnzusammenhänge stellt. Seine Texte begleiten
mich ebenso wie jene von Barthes und Bourdieu seit einiger Zeit dabei, Theo-
rie und Praxis nicht als Gegensätze, sondern vielmehr dialektisch zu begrei-
fen. Bhabhas Texte werden immer wieder als völlig fern jeder Lebenswelt,
theoretisierend und unverständlich kritisiert — also fern von jeglicher Praxis
verortet. Interessanterweise erschlieĂźt mir aber gerade die LektĂĽre seiner
Aufsätze eine Perspektive auf das Sein und Tun in Grenzräumen, mit einem
hohen MaĂź an Lebensweltorientierung. Es ist besonders die bildhafte Spra-
che, mit der Bhabha mir seine Theoriegebäude auf lebendige Art vermittelt.
Seine Texte handeln von Menschen, von Begegnungen, von Machtverhält-
nissen zwischen Menschen, die sich begegnen. Dabei bezieht er sich meist
auf koloniale und postkoloniale Zusammenhänge, in denen ein Teil der Men-
schen Macht und Autonomie besitzt, der andere Teil nicht. Die einen sehen,
können gesehen werden, haben Stimmen und werden gehört, verfügen über
Wissen — die Anderen nicht. Im ersten Moment scheint es sich hier um klare
Unterscheidungen und eindeutige Grenzlinien zu handeln. Was sich diesseits
und jenseits dieser Grenzlinien befindet, lässt sich mit wenigen Worten erfas-
sen — Schwarz/Weiß, Arm/Reich, Nord/Süd, Mann/Frau, Macht/Ohnmacht.
Die Problematik von Gegensatzpaaren im kolonialen Diskurs besteht fĂĽr
Homi Bhabha darin, dass Menschen auf der einen oder anderen Seite verortet
werden und keine Möglichkeit besteht, die Seite zu wechseln. Es geht dabei
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien