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vermuteten, die Frauen hätten Vorteile beim Fotografieren, die Frauen sahen
die Vorteile ausschließlich bei den Männern. Die Auseinandersetzung mit den
jeweiligen Restriktionen für Männer und Frauen führten zu intensiven Dis-
kussionen über Geschlechterrollen und Unterdrückungsverhältnisse in beiden
Workshop-Gruppen. Manche der Teilnehmer_innen setzten ihre Auseinander-
setzung damit beim Fotografieren fort. Eine der Teilnehmer_innen, Habiba
Soltan Ali, hat sich daraufhin mit männlicher Begleitung in die Stadt begeben
und am Markt fotografiert. Sie war zum damaligen Zeitpunkt Studentin fĂĽr
Malerei an der Universität in Kabul. Beim Fotografieren nahm sie eine unge-
wohnte Position für eine junge Frau in Afghanistan ein — sie fotografierte
StraĂźenszenen, wenn notwendig sprach sie ihre Modelle vorher an und stand
in direktem Kontakt mit ihnen. Dabei machte sie ein Foto, mit dem sie auf
subtile Art die Geschlechterverhältnisse in ihrem Umfeld thematisierte. Das
Bild hat im Workshop und bei weiteren ipsum-Initiativen immer wieder zu
anregenden Diskussionen gefĂĽhrt, vor allem wenn gefragt wurde: Wer ist im
Bild? Die fünf Männer im Bild wurden meist schnell erkannt. In vielen
Fällen wurde die Frau in diesem Bild nicht gesehen.
Beispiel 4 Eine andere ipsum-Fotografin, Zuhra Najwa, studierte Journalis-
mus und setzte sich auch bewusst mit dem Leben von Frauen in Afghanistan
auseinander. In einem Bild fotografierte sie zwei Studentinnen am Universitäts-
campus in Kabul. Bis zum Sturz der Taliban Ende 2001 war es den Frauen
nicht gestattet zu studieren; auch war ihnen in der Ă–ffentlichkeit strengstens
verboten, sich ohne Schleier zu zeigen. Mit diesem Bild thematisierte Zuhra
Najwa die ambivalente Situation, die sich in ihrem Umfeld in den Jahren
nach dem Sturz der Taliban ergeben hat — inzwischen dürfen Frauen an der
Universität Kabul studieren, aber jetzt ist ihnen verboten, am Unicampus eine
Burqa zu tragen. Mit der Bildungsfreiheit der Frauen ging zugleich eine weitere
Kleidungsvorschrift fĂĽr sie einher. Mit diesem Bild konnte die Fotografin zu
vielschichtigen Diskussionen zum Thema Ethik und Bekleidungsvorschriften
anregen.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien