Page - 255 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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„Paulo, wir schlagen dir vor, daß du weitermachst mit dem Schreiben.
Aber schreib fĂĽr Intellektuelle und nicht mehr fĂĽr uns. Sag den Intellek-
tuellen, sie sollen nicht mehr länger abends in unserer Nachbarschaft
auftauchen und uns belehren, was Revolution ist. Wir wissen das selbst
und wir sind müde davon, uns belehren zu lassen.“ (ebd.: 113)
Dieser Brief an Freire bringt zentrale Aspekte zur Sprache, die gleichzeitig als
Kritik im Detail und als Bestätigung für sein Gesamtkonzept gelesen werden
können: Zum einen werden statische Subjekt- und Objektpositionen ange-
klagt, wenn die Arbeiter_innen in ihrem Brief bitten, dass Freire nicht mehr
länger in einem Text über und an sie als Objekte schreiben solle. Zum anderen
wird in dem Schreiben deutlich, dass sich dieses statische Verhältnis allge-
mein in der Beziehung zwischen Intellektuellen und Arbeiter_innen, ähnlich
wie zwischen Forscher_innen und Beforschten wiederfindet — die Arbeiter_in
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nen wollen jedoch nicht länger in diesem Missverhältnis „be-lehrt“ werden.
Ungleichheitsverhältnisse können demnach anhand fixierter Subjekt- und
Objektpositionen festgemacht werden: Das vermeintlich wissende Subjekt
schreibt über die Anderen und will sie dabei über ihre eigene Situation aufklä-
ren. In diesem Zusammenhang muss jedoch unbedingt die Doppeldeutigkeit
betrachtet werden, die mit dem Begriff des Subjekts einhergeht (Reckwitz
2012: 14). Subjektsein kann sich einerseits als die aktive, handelnde Oppositi-
on zum passiven Objektsein gestalten. Wird die Bedeutung von subjectum
und, davon abgeleitet, die englische Redewendung “to be subjected to some-
thing” (ebd.) beleuchtet, wird offensichtlich, dass ein solches Subjekt nicht
nur Macht ĂĽber ein Objekt ausĂĽbt, sondern selbst immer schon unterworfener
Teil eines Ganzen ist. Auch das mächtige Subjekt ist bestehenden Diskursen
und Habitusformen unterworfen.
Mein Forschen, die vielfältigen Interaktionen auf diesem Weg und die
Ergebnisse der vorliegenden Forschungsarbeit veranlassen mich, hier abschlie-
ßend eine utopistische Form der Forschungspraxis zu formulieren — ähnlich,
wie ich es im praxeologischen Selbstversuch zum Thema Bildungsalternativen
gemacht habe. Diese Utopie betrifft genau jenen Aspekt, den die Arbeiter_innen
in ihrem Brief an Freire beklagen und dem ich im Laufe meiner Forschungs-
arbeit immer wieder begegnet bin: die Ungleichheitsverhältnisse zwischen
Menschen aus völlig unterschiedlichen Wissens- und Erkenntniskulturen und
die daran gekoppelten Diskurse und Habitusformen. In meiner Forschungs-
utopie gehen Forschung und Bildung Hand in Hand und bilden einen Arbeits-
platz im Dazwischen. Dieser Arbeitsplatz ist von wechselseitigem Lernen und
dynamischen Subjekt- und Objektpositionen geprägt. Die Forscher_innen
sind herausgefordert, gewachsene Wissensbestände zu bedienen und sie wei-
ter wachsen zu lassen, gleichzeitig auch Orte aufzuspĂĽren, die noch nicht als
Orte des Wissens anerkannt sind. Vor allem sind sie jedoch herausgefordert,
ihr eigenes Wissen nicht ĂĽber das generative Wissen von Menschen abseits
des wissenschaftlichen Feldes zu stellen. Ein Balanceakt im eigenen Tun ist
gefordert — es geht darum, geeignete Umgangsformen zu entwickeln. Dafür
ist allerdings eine Vorbedingung notwendig, die vor allem die Forscher_innen
betrifft: die Bereitschaft, trotz der eigenen Habitusgebundenheit aus der eige-
nen Komfortzone, dem sicheren universitären bzw. institutionellen Rahmen
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Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien