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Wissenschaft offenbarte sich aber nicht nur in einem an Scherer, Carl
Lachmann,GrimmundMüllenhoff orientierten philologischen Arbeits-
programm,sondernauchineinemzutiefstkonservativenundreaktionären
Dienst-,Pflicht-undPersönlichkeitsethos,dasdieAbwehrdemokratischer
Gesellschaftsformen ebenso einschloss wie die wissenschaftlicher Neue-
rungen.125 Spätestens die im Jahr 2000 publizierten Regesten zum im-
merhin45JahreumfassendenBriefwechselmitEdwardSchröder126zeigen
ihn als unbeirrbaren „Vorkämpfer desRückschritts“127, als dezidiert anti-
semitischen, nationalistischen und frauenfeindlichenWissenschaftspoli-
tiker.
Walther Brecht gehörte zunächst zuRoethesNachwuchshoffnungen;
seineRoethegewidmeteDissertationDieVerfasserderEpistolaeobscurorum
virorum (1904) stand auch noch ganz imZeichen philologischer Litera-
turbetrachtung. So erklärte Brecht die Stiluntersuchung, mit der er die
Autoren der Dunkelmännerbriefe ermittelte, zwar nur dann als zielfüh-
rend, wenn sie vom „besonderen künstlerischen Charakter desWerkes“
ausging;diesenzuerfassen,vermögeaber,wieBrechthervorhob,„alleindie
philologische Betrachtung“.128 Indem Brecht das „Kunstwerk“ ins Zen-
trum des Interesses rückte, betonte er „weniger die textkritische als die
hermeneutische Komponente der Philologie“129 und bestimmte gleich-
zeitig denUnterschied zu einer rein historischenHerangehensweise:
Ichhabe dasThema imengerenSinnephilologisch aufgefaßt; das heißt, ich
habe, wie sich dies bei einer auf Feststellung der Verfasserschaft gerichteten
Stiluntersuchung von selbst ergibt, die Epistolae wesentlich als Kunstwerk
betrachtet, nicht als Zeitdokument. VomKunstwerke bin ich immer ausge-
gangen: immerhabeichdieZeitzurErklärungdesKunstwerksherangezogen,
niemalsaberdasKunstwerknurzurIllustrationderZeit,wieesderHistoriker
tut.130
Brechts Arbeit über die in lateinischer Sprache verfasstenDunkelmänn-
erbriefe verfolgte zudemdenZweck, „dendeutschenHumanismus so fest
wiemöglich in die deutsche Litteratur- undGeistesgeschichte einzuglie-
behalten; in seinemerstenBerliner Jahrzehnt veröffentlichte ermit „Nibelungias
undWaltharius“ (1909) nur einen einzigenAufsatz.
125 Vgl. Judersleben: „Philister“ contra „Dilettant“ (1998); ders.: Philologie alsNa-
tionalpädagogik (2000).
126 Roethe/Schröder:Regesten zumBriefwechsel (2000).
127 See:GustavRoethe undEdward Schröder (2006), S. 155.
128 Brecht:DieVerfasser derEpistolae obscurumvirorum (1904), S. 2.
129 Bonk:Deutsche Philologie inMünchen (1995), S. 246.
130 Brecht:DieVerfasser derEpistolae obscurumvirorum (1904), S.VII.
I.3. Philologie undmoderate Geistesgeschichte 43
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher