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ästhetische Ansätze sowie dezidiert geistesgeschichtliche Arbeitsweisen.
HattesichMinor–trotzzunehmenderSkepsis–stetsandasProgrammder
Philologiegehalten,151soöffneteBrechtseinewissenschaftlichenInteressen
nachallenSeiten,was,wienochzuzeigenseinwird, auchdieAuswahlder
von ihmgefördertenGermanisten beeinflusste.
Brechts ersteWienerVeröffentlichungDeutsche Kriegslieder sonst und
jetzt, die 1915 im Berliner Weidmann-Verlag erschien und die er nur
wenigeMonate nachBeginndes ErstenWeltkriegs verfasst hatte,152 steht
ganz im Zeichen deutscher Siegesgewissheit. Der Text ging aus einem
Vortrag hervor, den Brecht im März und April 1915 in Wien und
Naumburg/Saale gehalten hatte,153 und verbindet sein wissenschaftliches
Programm der (formal-)ästhetischen und historischen Betrachtung mit
einer–anRoethes imJahrzuvorpubliziertenRedeWirDeutschenundder
Krieg angelehnten –154 deutschnationalen Kriegsbegeisterung. Brecht
durchmisst darin deutschsprachige Kriegslyrik vom Mittelalter bis zur
unmittelbaren Gegenwart, um die Voraussetzungen für das „moderne
ethischeKriegslied,wiewir es alleinwünschen“, zu ermitteln: „Vaterland,
als real erlebtes Ideal; höchstausgebildetes Individuum: so reif entwickelte
Individualität, daß sie auch denGedanken fassen kann, sich aufzugeben,
sich zu opfern für die Gesamt-Volksindividualität, die Nation, das Va-
terland.“155 Im Unterschied zur Kriegslyrik des Deutsch-Französischen
Kriegsvon1870/71,derdie„patriotischeLeidenschaft“gefehlthabe,zeige
lautBrecht„dieProduktionvon1914einauffallendhohesNiveau“,womit
er sich vor allem auf die Lyrik von Ludwig Thoma, Richard Dehmel,
Albrecht Schaeffer und Rudolf Alexander Schröder bezog.156DenKrieg
und die Kriegslyrik begrüßte Brecht „als Befreiung aus ästhetischer Iso-
liertheit“, als „Ausfüllung theoretischer Lehre“, als Erlösung durch „ge-
meinsamesHandeln“,157 das einen neuen „Aufschwung“ bringen werde,
wie es auch1813derFall gewesen sei, als „eineneueFrömmigkeitbegann
nachalldenOrgienderAufklärung“.158DieVersicherungdermoralischen,
151 ZuMinor vgl. Faerber: Ich bin einChinese (2004).
152 Brecht schloss dieArbeit andiesemText am12. Juni 1915 ab.Brecht:Deutsche
Kriegslieder sonst und jetzt (1915), S. 47.
153 Vgl.Oels: „Denkmal der schönstenGemeinschaft“ (2007), S. 31.
154 Roethe:WirDeutschen undderKrieg (1914); zuBrechtsReaktion auf Roethes
Rede vgl.Oels: „Denkmal der schönstenGemeinschaft“ (2007), S. 32–33.
155 Brecht:DeutscheKriegslieder sonst und jetzt (1915), S. 16.
156 Brecht:DeutscheKriegslieder sonst und jetzt (1915), S. 27undS. 38.
157 Brecht:DeutscheKriegslieder sonst und jetzt (1915), S. 39–40.
158 Brecht:DeutscheKriegslieder sonst und jetzt (1915), S. 44–45.
I. Die Verfasstheit derWiener
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher