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mehrsprachigenSpannungsfeldes, zubeschreibenunddarüberhinaus ihre
Eigenständigkeit gegenüberdenübrigendeutschsprachigenLiteraturenzu
betonen.Vor allemAugust Sauers berühmtePragerRektoratsredeLitera-
turgeschichte und Volkskunde von 1907 und auch sein Aufsatz „Die be-
sonderen Aufgaben der Literaturgeschichtsforschung in Österreich“, in
demernoch imletzten JahrderMonarchie eineigenes „Reichsinstitut für
österreichische Literaturforschung“ verlangte, waren dahingehend rich-
tungsweisend.187
EinewirkungsvolleNeubewertung der österreichischen Literatur for-
cierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Schüler August Sauers. Josef
Nadler baute in seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und
Landschaften, deren erster Band 1912, also zwei Jahre vor der Berufung
Brechts nachWien, erschien, auf Überlegungen seines Lehrers zur Re-
gionalliteraturforschung auf, übernahm dessen stammes- und volks-
kundlichesBewertungsschema,dasdieLiteratur einesStammesbzw.einer
Landschaft in ihren regionalen, sozialen und politischen Besonderheiten
bestimmbar machen sollte. Anders als sein Lehrer legte Nadler diesem
Koordinatensystem aber eine geschichtsphilosophische, teleologisch auf
das „Reich“ bzw. die deutscheNation gerichteteKonstruktion zugrunde.
Mit dem von ihm entworfenen Gedanken einer Sonderstellung der ba-
irisch-österreichischenDichtung verhalf Nadler zwarder österreichischen
Literatur innerhalbeinergesamtdeutschenDarstellungzumerstenMal zu
gleichberechtigter Anerkennung, das ,alte‘ Interesse an der gesonderten
BeschreibungderösterreichischenLiteraturinnerhalbdesSpannungsfeldes
verschiedensprachiger Literaturen derMonarchie und in Abgrenzung zu
den anderen deutschsprachigen Literaturen trat dabei jedoch in den
Hintergrund.Nadlers Interesse zielte darauf ab, die österreichische Lite-
raturforschungnichtmehralseineeigenständigezubetrachten,sondernsie
„in die Sehnsucht nachderEinheit derNation, deren geistigenRaumsie
mitschrieb“188, zu integrieren.189
187 Dieses „Reichsinstitut“ sollte sich der deutschen Literatur in Österreich in Zu-
sammenhangmit den anderssprachigenLiteraturen derMonarchiewidmenund
sie als eine, den anderen deutschen Literaturen des deutschsprachigen Raums
ebenbürtige zeigen. Sauer:Die besonderenAufgaben der Literaturgeschichtsfor-
schung inÖsterreich (1917), S. 68.
188 Zeman:DerWeg zur österreichischenLiteraturforschung (1986), S. 44.
189 ZuSauersundNadlersLiteraturgeschichtekonzeptionvgl.Ranzmaier:Stammund
Landschaft (2008); Höppner: Die regionalisierte Nation (2007); Meissl: Zur
WienerNeugermanistik der dreißiger Jahre (1985).
I.3. Philologie undmoderate Geistesgeschichte 55
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher