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Walther Brecht hätte der Nadler’schen Konzeption, betrachtet man
seinekulturpolitischenAussagen, indenenerstets füreinegesamtdeutsche
Kulturauffassung eintrat und sich zudem für die Zusammenführung
Deutschlands undÖsterreichs aussprach, eigentlich uneingeschränkt po-
sitiv gegenüberstehen müssen. Tatsächlich nahm Brecht zu dieser For-
schungs-undkulturpolitischenFrageaberwechselndePositionenein.Sein
erster Aufsatz zur österreichischenLiteratur, die erwähnteÜberblicksdar-
stellung „Wesen undWerdender deutsch-österreichischenLiteratur“ von
1920, stand noch ganz im Zeichen gesamtdeutscher Interessen. Darin
heißt es gleich zuBeginn, dass die „deutsch-österreichischeLiteratur […]
einintegrierenderTeilderdeutschen“seiunddassesdeshalb„keinenurfür
sich existierendedeutsch-österreichischeLiteratur geben“könne.Darüber
hinaus sei die österreichische Literatur auch nur zu denZeiten „gut [ge-
wesen], wo sie mit der des übrigen Deutschland in lebendiger […]
Wechselwirkung stand“.190 Das zeige sich vor allem daran, dass der
österreichischen Literatur des 16. Jahrhunderts aufgrund der „geistige[n]
Abschnürung Österreichs vom übrigen Deutschland“ durch die Gegen-
reformation ein hoher „geistige[r] undwirtschaftliche[r] Schade[n]“ ent-
stand.191NacheinemnichtohneKlischeesauskommendenDurchgangvon
Walther von der Vogelweide über die Zeit Kaiser Maximilians, den
österreichischen Barock und die Volksbühne des 18. und frühen
19. Jahrhunderts bishin zuFranzGrillparzer, indemderösterreichischen
Literatureinestarke„NähezumVolkstum“192, „Naivität“, „Verspätung im
Geistigen“ und eine geringere „Gefahr theoretischer Überbildung“193 at-
testiert wird, was sie als kongeniale Schwester der deutschen, stärker ab-
straktkonstruiertenLiteraturausweise,kamBrecht zu folgendemSchluss:
Heutige österreichische und reichsdeutsche Literatur gehören zusammen: in
natürlicher organischer Ergänzung!
Nicht geradewieKopf undHerz, aber wieGeist undNatur, Vernunft und
Sinne,LeibundblühendeFarbe,kühneNeueroberungundfesteStiltradition,
Licht undWärme.DieseWärmeÖsterreichsKulturmission!
DasÖsterreichische istvielleichtdiejenigeFormdesDeutschen, inderesdem
Ausländer am leichtesten, am liebenswürdigsten zugänglichwird;Grillparzer
für ihn vielleicht der besteWeg zuGoethe.
Aber diesenWeg zu betreten,müssenwir ihm heute selber überlassen.Wir
haben genugmit uns zu tun.
190 Brecht:WesenundWerdenderdeutsch-österreichischenLiteratur (1920),S.337.
191 Brecht:WesenundWerdenderdeutsch-österreichischenLiteratur (1920),S.340.
192 Brecht:WesenundWerdenderdeutsch-österreichischenLiteratur (1920),S.339.
193 Brecht:WesenundWerdenderdeutsch-österreichischenLiteratur (1920),S.341.
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher