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legeCarl vonKrauswar gelinde irritiert.Auf einennicht erhaltenenBrief
desAltgermanisten antwortete Brecht im Juli 1923:
Was Sie in u. an meinem Aufsatz ,ungewöhnlich graciös‘ finden, kommt
natürlichdurchausaufHofmannsthalsRechnungundzwarwörtlich:dennich
habe ja nicht nur viele seiner Begriffe, Symbole,Motive, sondern auch eine
Anzahl seiner besonderen Ausdrücke (z.B. „Präexistenz“, „Verschuldung“,
„Süßigkeit in der Verschuldung“) aus seinemmir gelegentlich überlassenen
ganz privaten zerstreutenAufzeichnungen „Ad se[!] ipsum“ herübergenom-
men.EswarkeineKleinigkeit,dieseGeheimschriftzudeutenu.ihreZügemit
meinen seit je bestehenden Auffassungen von ihm zu einem leidlich philo-
logisierten,nat[ürlich]nochvereinfachtenu.geklärtenBildezuvereinigen.Sie
finden es,mir völlig begreiflich, graziös, er natürlich vergröbert.209
Bei Brechts Versuch, gleichzeitig sowohl literarischen als auch wissen-
schaftlichenDarstellungs- undAusdrucksweisen gerecht zuwerden, han-
delte es sich um eine Gratwanderung, die eine Annäherung der beiden
Sphären im Sinn hatte und zeitgenössisch durchaus keine singuläre Er-
scheinung innerhalb des wissenschaftlichen Feldes war.210Brecht verhalf
diese Hinwendung zu ästhetisch und stilistisch prononcierten Darstel-
lungsverfahren aber,wie seinBrief anCarl vonKraus zeigt, weder zu be-
sonderer Anerkennung von Fachvertretern noch vom Dichter selbst.
Ähnliches lässt sich überBrechts Beitrag zurEranos-Festschrift anlässlich
Hofmannsthals 50.Geburtstags 1924 sagen, in demer eine „Fragmenta-
rische Betrachtung überHofmannsthalsWeltbild“ anstellte, die auf eine
einheitliche Gesamtschau von Hofmannsthals Werk abzielte. Die von
Brecht angenommeneWeiter- undHöherentwicklung inHofmannsthals
Oeuvre erklärte der Germanist mit folgenden – wissenschaftlich wenig
erhellenden–Worten,die stilistischoffenkundignichtAusdruck einer an
Nüchternheit und Sachlichkeit orientierten akademischen Sprache sind:
Traf man früher manchmal auf, unendlich reizvolle, Addition, wenn der
vergröberndeVergleicherlaubt ist, soherrscht jetzt Integration.Dies istnicht
nur der allgemeine menschlich-dichterische Vorgang, nicht nur Sache des
Lebensalters: ein tieferes scheint sich anzuzeigen.Wer auf das „GroßeWelt-
theater“,aufden„Turm“nureineneindringenderenBlickrichtet,erkennt,wie
die rätselhafte Verschlungenheit aller Geschicke hier dunkelklar in bezie-
209 Brief vonBrecht anKraus vom20. Juli 1923;BSBMünchen,NachlassCarl von
Kraus,Krausiana I.
210 Zu diesemThemenkomplex vgl. Trommler: Geist oder Gestus? (1997); Oster-
kamp:FriedrichGundolf zwischenKunstundWissenschaft(1993);Weimar:Das
MustergeistesgeschichtlicherDarstellung(1993);sowieKap.III.1.undKap.III.2.
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher