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festgelegte Sprache und der Briefroman als bevorzugte Form, dass sich
nicht nur Laien, sondern auchFrauen zumerstenMal in einer nennens-
werten Zahl am literarischen Schaffen beteiligen konnten. In der Kapi-
telzusammenfassung legt Touaillon auch gerade darauf Wert, dass nicht
unbedingt die ,Begabung‘ der Frau die Ursache für ihren bisherigen
Ausschluss aus der literarischen Produktion darstellte, sondern die Ver-
fasstheit derLiteratur selbst: „Als derRomandieFamilie zu seinemStoff,
denBrief zuseinerFormmachte,hattesichdieKunstdenFrauengenähert
und so entstandder deutsche Frauenroman.“ (Touaillon 1919, 66)
WieTouaillon bei ihrerDarstellung der einzelnen Schriftstellerinnen
imDetailvorgeht, lässtsichanihrenumfassendenErläuterungenzuSophie
von La Roche zeigen, die 1771 mit der Geschichte des Fräuleins von
Sternheimnicht nur als erste Frauüberhaupt alsRomanschriftstellerin an
dieÖffentlichkeit trat, sonderngleichzeitigauchdenerstenempfindsamen
Roman schuf. Zunächst entwirft TouaillonLaRochesBiographie, wobei
Elternhaus, Ehe, Kinder, die gesellschaftliche und ökonomische Stellung
sowie die Beurteilung durch Zeitgenossen ebenso breiten Raum einneh-
menwie Beteuerungen, dass ihre „Dichtung […] schon in der Kindheit
[…] im Keime vorgebildet“ gewesen sei. Das zeige sich daran, dass La
Roche – wie Touaillon einem Brief der Autorin an Christoph Martin
Wielandentnimmt–bereitsmit sechs Jahrendie „beidenHauptelemente
ihrer Handlung“, den „Kuß und die Träne“, zu ihren bevorzugten Aus-
drucksmitteln erklärte. (Touaillon 1919, 71–72)
NachstrengphilologischenUntersuchungenzuEntstehungsgeschichte
und Textgenese derGeschichte des Fräuleins von Sternheim widmet sich
Touaillon der Einflussforschung. So beruhe die Handlung des Romans
zum ersten Mal in der Geschichte der Literatur fast durchgehend auf
theologischer, insbesondere pietistischer Grundlage. Die drei Stufen
(Versuchung – Erniedrigung – Erhöhung), nach denen das Leben der
Heldin aufgebaut sei, entsprächen dem Grundschema des christlichen
Mythos; die „großeWichtigkeit, welche dieDichterin der Verzweiflung
ihrer Heldin beilegt“ (Touaillon 1919, 104), lasse den Einfluss des pie-
tistischen Theologen August Hermann Francke erkennen, der die Ver-
zweiflung als einzigmöglichenWeg zu echtemChristentumansah. Aber
auchvieleweiterepietistische Ideen fänden sich inLaRochesRoman:die
„Wendung […] gegen das Weltleben“, die „Forderung des geduldigen
Ertragens von Trübsal, Angst und Spott“, die „Sehnsucht nach einem
Leben in Friede und Freundschaftmit jedermann“und nicht zuletzt die
Überzeugung, dass „guteHandlungen viel ruhmwürdiger als die feinsten
Gedanken“seien.NebendemPietismushatten, lautTouaillon, aberauch,
II. Christine Touaillon
(1878–1928)106
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher